Patriotismus in der armenischen Diaspora nach dem Berg-Karabach-Krieg
Der Krieg um Berg-Karabach 2020 hatte weitreichende regionale und globale Folgen für die Gesellschaften Armeniens und Aserbaidschans. Obwohl er auf beiden Seiten Zerstörung hinterließ, wirkte sich der Kriegsausgang in den beiden Ländern sehr unterschiedlich aus. In Armenien hinterließ er emotionale Enttäuschung, eine tiefe politische Krise und zunehmende Spaltung der Gesellschaft, während das Regime in Aserbaidschan seine autoritäre Herrschaft weiter festigen konnte. Unterdessen erweiterten die Bemühungen der globalen armenischen Diaspora, zivile, finanzielle und internationale Unterstützung für Armenien zu mobilisieren, den Konflikt um eine weitere Dimension. Sie schufen mögliche neue Herausforderungen, die über den nationalstaatlichen Rahmen hinausgehen.
Die Verlusterfahrung, mit der armenische Diasporagemeinschaften infolge des Krieges konfrontiert waren, könnten sich langfristig auf ihre Beziehungen zu Armenien auswirken. Innerhalb der gut organisierten armenischen Gemeinden in den USA, Kanada und Frankreich setzen sich Aktivist*innen für ein stärkeres Engagement und mehr Zusammenarbeit mit der Republik Armenien, der symbolischen Heimat, ein. Sie argumentieren, dass diese Unterstützung mehr beinhalten sollte als ad hoc organisierte Wohltätigkeitsaktionen, touristische Reisen und Aktivismus in den sozialen Medien.
Die Beziehungen zwischen Armenien und der armenischen Diaspora im Westen sind komplex und nicht immer harmonisch. In den letzten dreißig Jahren gab es auf beiden Seiten hohe Erwartungen, dass sich die gegenseitige Zusammenarbeit verbessern würde und gemeinsame Ziele erreicht werden könnten. In den Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion trat immer offener zutage, dass die Vorstellungen über eine imaginierte Heimat wenig mit der Realität des postsozialistischen Armenien zu tun hatten.
Trotz hoher Spenden und prominenter Unterstützer*innen ist der politische und wirtschaftliche Einfluss der sieben Millionen Armenier*innen in der Diaspora relativ begrenzt geblieben. Wie gering ihr Einfluss auf die Politik in Armenien ist, zeigte 2018 die Samtene Revolution. Es waren lokale Aktivist*innen und die Bevölkerung vor Ort, die den armenischen Präsidenten Sersch Sargsjan zum Rücktritt zwangen und für einen politischen Richtungswechsel sorgten.
Emotionale Verbundenheit, aber verhaltenes Engagement
Seit 2017 versucht die armenische Regierung, gut ausgebildete Armenier*innen aus dem Ausland dazu zu bewegen, in ihr Heimatland zurückzukehren, um dort geplante Reformen und die wirtschaftliche Entwicklung des Landes mitvoranzutreiben. Der prorussische armenische Staat mit seiner weitverbreiteten Korruption und gesellschaftlichen Ungleichheit genießt jedoch nur wenig Vertrauen bei Armenier*innen, die in zweiter oder noch späterer Generation im Westen leben. Deshalb ziehen viele von ihnen es vor, ihr Herkunftsland durch unverbindliches Engagement aus der Ferne zu unterstützen.
Internen Differenzen der armenischen Diaspora zum Trotz kann ihre tiefe emotionale Verbundenheit mit dem Heimatland Armenien nicht unterschätzt werden. Infolge des zweiten, zwischen September und November 2020 geführten Kriegs um Berg-Karabach beteiligten sich Armenier*innen weltweit an Protesten. In Kalifornien blockierten Demonstrant*innen eine Autobahn. Sie forderten eine umfassendere Berichterstattung über das Kriegsgeschehen. Amerikaner*innen armenischer Herkunft sammelten Spenden im Wert von über 170 Millionen Dollar, um der Region Berg-Karabach humanitäre und medizinische Hilfe zukommen zu lassen. Manche meldeten sich sogar freiwillig für die armenische Armee.
Die tiefe Enttäuschung, die der Krieg hinterließ, löste kontroverse Debatten aus, was genau schiefgelaufen sei und was als Nächstes geschehen müsse. Richard Giragosian vom Zentrum für Regionalstudien in Jerewan ist der Meinung, dass die Kriegsfolgen zu einem qualitativen Wandel der Beziehungen zwischen dem armenischen Nationalstaat und der Diaspora führen könnten. Insbesondere könnte es zu Verschiebungen der politischen Agenda der Diaspora kommen, die bisher vor allem durch den Kampf um die internationale Anerkennung des 1915 an den Armenier*innen verübten Genozids bestimmt wurde.
Bis vor Kurzem haben Appelle, auf der Einheit des Nationalstaats aufzubauen, nur wenig Resonanz gefunden. Angehörige westlicher armenischer Diasporagemeinschaften betrachten Armenien als einen problematischen Ort für größere Investitionen und eine langfristige Zusammenarbeit. Viele empfinden sich zwar als ethnische Armenier*innen, fühlen sich dem physischen Territorium Armeniens politisch jedoch nicht verbunden.
Mit der Zunahme des Heimat-Tourismus, des Spendenvolumens und diverser Entwicklungsprojekte haben sich der Diaspora eine Vielzahl neuer Chancen eröffnet, ohne dass dieses Wachstum jedoch zu einem stärkeren Einheitsgefühl zwischen ihr und der armenischen Regierung geführt hat. Das liegt unter anderem daran, dass einige der Graswurzelaktivist*innen aus der armenischen Diaspora ihre Hilfsprojekte und Beziehungen unabhängig von staatlichen Initiativen aufgebaut haben. Die meisten Unterstützungsaktionen der Diaspora bestehen aus individuellen Projekten, die sich auf bestimmte, ausgewählte Ortschaften konzentrieren. Sie sind weniger strategisch ausgerichtet als staatliche Projekte, richten ihren Fokus auf spezifische Belange und zeichnen sie sich durch ein gewisses Maß an Skepsis gegenüber staatlicher Beteiligung aus.
Die Nachwirkungen des Krieges
Welche langfristigen Folgen der Krieg und die Rolle der Diaspora für die armenische Politik haben werden, ist schwer vorherzusagen. Angehörige der Diaspora könnten durch Unterstützungsfonds und den Transfer von Ideen und Werten eine Rolle beim Wiederaufbau spielen. Sie können damit zu einer Stabilisierung und Stärkung der Zivilgesellschaft beitragen und demokratische Entwicklungen in Armenien vorantreiben. Allerdings sind die Aktivitäten der armenischen Diaspora trotz einer Vielzahl transnationaler Graswurzelinitiativen zu dezentralisiert, um einen nachhaltigen Einfluss auf ihr Herkunftsland auszuüben.
Die Auswirkungen des Krieges haben einige Aktivist*innen und Freiwillige mit einem Gefühl der Ohnmacht zurückgelassen. Die bittere Erfahrung des Krieges könnte nichtsdestotrotz Jugendliche in der Diaspora dazu bewegen, eine neue Beziehung zu ihrem Heimatland und effektivere, stärker zentralisierte Netzwerke aufzubauen. Dadurch könnte ihr Verhältnis zu Armenien in Zukunft auf eine nachhaltigere Weise gestaltet werden, die über traumatische Vergangenheitserinnerungen, Online-Wohltätigkeitsaktionen und touristische Reisen hinausgeht. Momentan ist ein neuer Aufschwung eines emotionalen Patriotismus zu beobachten. Er sollte der Idee eines vereinten Armeniens dienen. Ein Beteiligter einer Blogdiskussion in den USA fasste seine Vorstellungen optimistisch zusammen: „[Wir brauchen] eine Regierung, die die Meinung aller Armenier*innen auf der Welt widerspiegelt. Deshalb sollten alle dazu ermuntert werden, sich ihre Identität zu eigen zu machen, und einen armenischen Pass erhalten. Sie sollten zudem das Wahlrecht besitzen und Kandidat*innen aus der ganzen Welt wählen können.“
Dieser Aufruf spiegelt nicht die Meinungen aller im Ausland lebenden, ethnischen Armenier*innen wider. Er macht jedoch deutlich, welche neuen Gefühle die aktuelle Krisensituation hervorbringt. Die in ihm vertretene Sichtweise könnte zu einer weiteren Mobilisierung der Jugendlichen in der Diaspora beitragen. Aufgrund ihrer starken Lobby in den USA, Kanada und Frankreich haben westliche armenische Gemeinden gute Möglichkeiten, sich politisch Gehör zu verschaffen. So können Armenier*innen ihre Identität in der Diaspora bewahren und sogar die internationalen Beziehungen mitgestalten. Das Ergebnis des Krieges 2020 werden sie aber in naher Zukunft nicht entscheidend beeinflussen können. Armenien zählt weiterhin auf die moralische und finanzielle Unterstützung der Diaspora, viele der im Ausland lebenden Armenier*innen werden ihre Solidarität aber höchstwahrscheinlich eher aus der Ferne ausdrücken als vor Ort aktiv zu werden.
Tsypylma Darieva ist Sozialanthropologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS, wo sie den Forschungsschwerpunkt „Migration und Diversität“ leitet.