ZOiS Spotlight 34/2021

Rap auf Tatarisch: die Abkehr vom Russischen?

Von Aleksej Tikhonov 29.09.2021
Die tatarische Band Aigel bei einem Konzert. Elena Mkrtchjan

Mein Freund ist Tatare / Seine Liebe ist autoritär / Seine Waffe ist geladen / Und er hat dich im Visier

Aigel Tatarin (Tatare) [1]

2017 brachte das tatarische Electro-Hip-Hop Duo Aigel ihr Debüt-Album 1190 heraus. Ihr auf Russisch und Tatarisch gerapptes Lied Tatarin (Tatare) mit dem dazugehörigen Musikvideo ging in Russland sofort viral. Darauf folgte die Einladung zur populärsten Late-Night-Show des Landes. Es war das erste Mal, dass ein teilweise auf Tatarisch performter moderner Song im ersten staatlichen Fernsehsender zu hören war. Heute hat Tatarin über 73 Millionen Views auf YouTube. Die Wahl des Tatarischen blieb im Chartstürmer Tatarin zunächst noch auf vereinzelte Passagen und den kompletten Song Kötä (Ich warte) vom gleichen Album beschränkt – eine Ausnahme, die nach vier Jahren zur Regel wurde.      

Von sprachlicher Freiheit unter Jelzin bis hin zur Krim unter Putin

Tatarstan ist eine autonome Republik im östlichen Teil des europäischen Russlands, in der sowohl Russisch als auch Tatarisch gesprochen wird. Während der Regierungszeit von Boris Jelzin in den 1990-er Jahren wurde die größte Minderheit Russlands rechtlich gefördert. So erhielt sie etwa das Selbstbestimmungsrecht über den Unterricht auf Tatarisch in den Schulen der Republik. Unter Wladimir Putin wurde die Regelung über die Minderheitensprachen zentralisiert. Tatarisch war in der Folge kaum mehr im Schulunterricht präsent.  

Aktuell ist vor allem die tatarische Bevölkerung der Krim in den Medien präsent. Die Annexion der Halbinsel durch Russland im Jahr 2014 entfachte auch die Diskussion um die staatliche Zugehörigkeit der Krim-Tatar*innen. Solidarisierungsversuche von Tatar*innen mit den Krimtatar*innen und Kritik an der Regierung in der Krim-Frage wurden schnell unterbunden und sanktioniert. Selbst heute erscheinen noch regelmäßig widersprüchliche Meldungen dazu. Russische Medien berichten entweder über die tatarische Abneigung gegenüber der Ukraine oder vermeintlich islamisch-radikalisierte Aktivist*innen auf der Halbinsel. Ukrainische Medien stellen Tatar*innen dagegen als ukrainische Patriot*innen und Opfer der Besatzungsmacht dar. Der US-amerikanische Sender Radio Free Europe berichtet durchgängig über Verfolgungen und Prozesse gegen die Tatar*innen auf der Krim. Dabei leben Tatar*innen bereits seit über 500 Jahren auf dem Gebiet. In Russland selbst entfaltet sich die tatarische Kultur vor allem in der Republik Tatarstan und ihrer Hauptstadt Kasan. In den letzten Jahren wurden tatarische Stimmen auch außerhalb Tatarstans immer lauter. Einige Künstler*innen genießen heute auch internationale Aufmerksamkeit.

Russisch bringt mehr Publikum, aber nicht mehr Liebe

Einer der kommerziell erfolgreichsten Rapper Russlands ist Timur Junusov aka Timati. Dass er einer tatarisch-jüdischen Familie entstammt, ist zwar kein Geheimnis, aber auch kein Thema seiner Lyrics. Einen anderen Weg, als auf Russisch zu rappen, gab es für den Künstler von Anfang seiner Karriere in den frühen 2000-er Jahren an nicht. Spätestens seit den 2010-er Jahren ist er ein aktiver Unterstützer Wladimir Putins. So heißt sein 2015 auf YouTube veröffentlichtes Video Lutschschij Drug (Der beste Freund), womit der Präsident Russlands gemeint ist. Das Feedback des Publikums sind über 15 Millionen Views, mehr als 150.000 Likes, aber auch über 213.000 Dislikes.  

Gleichzeitig mit dem russischsprachigen Rap von Timati in Moskau wurde im Kasan der 2000-er Jahre Rap auf Tatarisch geboren. Die wohl Dienstältesten sind die Musiker*innen von Ittifaq (Einheit). Ihr Label Yummy Music hat um sich auch weitere tatarische Hip-Hop-Künstler*innen, wie Radif Kashapov, qaynar (heiß) oder Said Olur, versammelt. Zu der neuen Generation gehören die Entertainer*innen von #SHIKERNYE (die Schicken), die bewusst und humorvoll mit tatarischer Kultur experimentieren. Während in den 2000-er Jahren die Förderung des Tatarischen rechtlich eingeschränkt wurde und die Musiker*innen nur lokale Aufmerksamkeit genießen konnten, sorgen die Generationen Y und Z für ein Revival des Tatarischen, das über die Grenzen Tatarstans hinausgeht. Kurz vor Aigel verhalf die Musikerin Tatarka (Die Tatarin) dem tatarischsprachigen Rap zum überregionalen Erfolg. Das Musikvideo zu Altyn (Gold) zählt heute rund 51,5 Millionen Views und ist das erste virale Video zu einem Track auf Tatarisch. Danach brachte die Künstlerin mehrere Hits heraus, in denen sie zwischen Tatarisch und Englisch wechselt.

Schweigen auf Russisch, Rappen auf Tatarisch

Aigel Gajsina ist mittlerweile aus der zweitgrößten Stadt Tatarstans Nabereschnyje Tschelny in die Hauptstadt der Republik gezogen, zu Moskau bleibt sie eher auf Distanz. 2020 erschien das vierte Album und das erste auf Tatarisch von Aigel - Pyjala (Glas). Im Dezember 2020 erschien ein Interview von Gajsina für das Kulturportal sobaka.ru. Darin erzählte sie von ihrem Glück, dass sie als Kind Tatarisch in der Schule lernen konnte, weil es Pflichtkurse für verschiedene Niveaus gegeben hat. Heute sei der Unterricht optional und ihre Tochter muss einen externen Kurs besuchen. Über ihr heutiges Verhältnis zur Russischen Sprache sagt Gajsina: “Es [das Tatarische] ist ein Kanal reiner Semantik. Du kannst damit alles sagen, was immer du sagen willst, ohne Angst zu haben, superlativ zu klingen. Ich hatte ein persönliches Trennungsdrama und mir wurde klar, dass es nicht mehr möglich war, wie gewöhnlich über sentimentale Erlebnisse [auf Russisch] zu schreiben, ich verstummte auf einer gewissen Weise. Und in die tatarische Sprache – das ist mein Zuhause’”.      

Die meisten tatarischen Rap-Artists sagen es nicht laut. Doch die Äußerungen von Gajsina scheinen für die meisten tatarischen Künstler*innen zu sprechen. Zur russischen Sprache und Kultur wird die emotionale Distanz immer größer, das Wiederentdecken der eigenen – tatarischen – Kultur gewinnt an Stellenwert. Mit Musik, Literatur oder anderen Kunstformen arbeitet die junge Generation ihre Geschichte auf und möchte ihre Identität finden und begreifen. Die aktuelle Entwicklung um die tatarische Sprache und Kultur ist aber weniger ein direktes Ergebnis politischer Auseinandersetzungen etwa um die Krim, sondern eine Form der Vergangenheitsbewältigung, die aus den letzten 100 Jahren tatarisch-russischer Beziehungen resultiert.


[1] Original: А мой парень - татарин // В любви - авторитарен // У него пуля в пушке // Ты у него на мушке

Aleksej Tikhonov ist PostDoc im linguistischen Kooperationsprojekt „The history of pronominal subjects in the languages of Northern Europe“ der Humboldt-Universität zu Berlin und der University of Oxford und habilitiert zum Einfluss slawischer Sprachen im Deutschrap.