Religion und Dezentralisierung in Russland in Zeiten von Covid-19
Die Covid-19-Krise hat viele, zuvor unbemerkte soziale und politische Prozesse sichtbar gemacht, sowohl in Russland als auch andernorts. Die Dezentralisierung in Russland ist eine dieser bislang unauffälligen Entwicklungen. Während der Pandemie hat es bisher in den Händen der Gouverneure und lokalen Verwaltungen der Regionen und Republiken des Landes gelegen, zu entscheiden, ob Quarantänemaßnahmen ergriffen oder aufgehoben werden.
Verschiedene Regionen haben demnach unterschiedliche Entscheidungen getroffen: Fast zwanzig regionale Verwaltungen hatten entschieden, aufgrund der Pandemie keine Parade zum 75. Jahrestags des Sieges im Zweiten Weltkrieg abzuhalten. Der Tag des Sieges ist einer der Eckpfeiler der nationalen Identität Russlands. Obwohl Fälle wie dieser wohl kaum als ein Anzeichen bedeutender, struktureller Veränderungen gedeutet werden können, haben sie die existierenden sozialen Strukturen Russlands und deren Entwicklungen sichtbarer gemacht.
Die Russische Orthodoxe Kirche, die normalerweise für ihre Staatsnähe kritisiert wird, steht vor ähnlichen Herausforderungen. Bischöfe mussten entscheiden, wann und wie die Kirchen und Klöster in ihren Diözesen den Gläubigen religiöse Dienste zur Verfügung stellen sollten. In vielen religiösen Gemeinschaften, insbesondere in Klöstern, wurden diese Entscheidungen von den Gemeindeleitern selbst getroffen. Dadurch wurde die Dezentralisierung weiter vertieft. In vielen Fällen standen die Entscheidungen im Widerspruch zu den Empfehlungen der Bischöfe oder der lokalen Verwaltungen. Trotz der Covid-19-Einschränkungen empfingen viele Klöster weiterhin Pilger*innen und versuchten zu vertuschen, wie viele Mönche und Nonnen sich bereits infiziert hatten. An solchen Praktiken lässt sich die besondere Stellung der Kirche innerhalb des russischen Staates ablesen.
Orthodoxe Covid-19-Dissident*innen
Während des Covid-19-Ausbruchs haben Teile des Klerus Anweisungen ignoriert, vorerst keine Kommunion mehr zu spenden und die liturgischen Löffel nach jedem Gebrauch zu reinigen. Sie taten dies aus praktischen oder religiösen Gründen, oder aus beiden zugleich. Praktisch brauchte der Klerus weiterhin Gläubige, die die Kirche besuchen, um in solchen schwierigen Zeiten finanziell über die Runden zu kommen. Gleichzeitig wollte der Klerus regelmäßigen Kirchgänger*innen mit spiritueller Unterstützung zur Seite stehen. Es gibt jedoch noch einen weiteren Grund: Viele orthodoxe Christ*innen in Russland leugnen Covid-19 entweder komplett oder zumindest teilweise. Während die einen per se nicht an die Krankheit glauben, leugnen andere die Möglichkeit, dass das heilige Brot und der heilige Wein, die während der Heiligen Kommunion verzehrt werden, durch irgendein Virus oder Bakterium kontaminiert werden könnten.
Die Russische Orthodoxe Kirche hat eine vielfältige Zielgruppe und heißt Menschen mit verschiedenen Meinungen willkommen. Auf der einen Seite setzten sich viele Priester und Bischöfe in letzter Zeit für die kontroverse Verfassungsreform ein, die dem aktuellen Präsidenten bis 2036 die Macht sichern wird. Dabei handelten sie wie Staatsbedienstete, zum Beispiel Schulrektor*innen, die am Referendum vom 1. Juli teilnahmen und verpflichtet waren, andere Menschen zur Wahl zu bewegen. Auf der anderen Seite finden sich in der Kirche auch Kritiker*innen des gegenwärtigen politischen Regimes, allerdings von einer sehr speziellen Sorte.
Einer dieser Dissident*innen ist Pater Sergij Romanow. Er ist der Gründer, Verwalter und spirituelles Oberhaupt eines großen Konvents in der Nähe von Sredneuralsk, einer Kleinstadt im Uralgebirge. Pater Sergij ist in der Region und darüber hinaus unter orthodoxen Christ*innen als ein “starker Priester” bekannt, den Menschen in Situationen existenzieller Krisen oder emotionaler Zusammenbrüche besuchen, um zu beichten und spirituellen Rat einzuholen. Er hat ein weites Netzwerk geknüpft und auch unter manchen politischen und anderen Eliten an Beliebtheit gewonnen. Sie fühlen sich von seiner „authentischen Volksspiritualität” angezogen, und teilen oder tolerieren zumindest seine konservativen Ansichten und Verschwörungstheorien.
Pater Sergij predigt, dass Covid-19 eine Lüge sei, und dass die Menschen sich an physische Abstandsregeln oder an andere, von den weltlichen oder kirchlichen Autoritäten beschlossene Maßnahmen nicht halten müssten. Er hat außerdem öffentlich behauptet, dass die aktuelle russische Regierung Teil einer weltweiten Verschwörung von Jüd*innen gegen das russische Volk sei. Durchaus folgerichtig forderte er seine Landsleute dazu auf, nicht am Referendum über die Verfassungsreform teilzunehmen.
Autokratische Inseln jenseits staatlicher Kontrolle?
Im Gegensatz zu säkularen politischen Dissident*innen sind orthodoxe Dissident*innen weder liberal noch demokratisch. Menschen wie Pater Sergij sind politisch konservativ und antimodernistisch, sowohl theologisch als auch kulturell schlecht gebildet, und nehmen vor allem für sozial benachteiligte Menschen Führungsrollen ein. Pater Sergij und einige andere, ihm ähnliche orthodoxe Priester erschaffen ihre eigenen kleinen, autokratischen Republiken innerhalb der heterogenen orthodoxen Welt, die scheinbar frei von staatlicher Kontrolle existieren.
Die Russische Orthodoxe Kirche versteht es, diese Dezentralisierungstendenzen erfolgreich in ihrem Sinne zu lenken. Die Kirche braucht charismatische Mystiker*innen und talentierte Manager*innen, weshalb sie versucht, diese möglichst an sich zu binden. Manchmal weigern sich solche Führungspersönlichkeiten und ihre Anhänger*innen allerdings, zu gehorchen. Letztendlich werden die so entstehenden, abtrünnigen Inseln aber von der Kirche und dem russischen Staat wieder annektiert. Am 2. Juli wurde Pater Sergij aus seinem Priesteramt entlassen und der Bischof von Jekatarinburg forderte ihn auf, sein Kloster zu verlassen. Außerdem wurde er von den weltlichen Behörden mit einem Bußgeld für die Verbreitung von Lügen über Covid-19 belegt. Dezentralisierung kann toleriert werden, bis sie zu sichtbar wird, um sie weiter zu ignorieren.
Jeanne Kormina ist Professorin für Anthropologie und Religionswissenschaft an der Higher School of Economics in Sankt Petersburg und Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.