Russen zu Balten machen?
Seit 1999 hat Lettland nur eine Staatssprache, das Lettische, obwohl dem jüngsten Zensus zufolge von den knapp über zwei Millionen Einwohnern rund 37 Prozent vorwiegend russischsprachig sind und rund 27 Prozent eine russische ethnische Identität angaben. 2012 scheiterte ein Referendum, durch das Russisch zur zweiten Staatssprache werden sollte. Seinerzeit hatten lettische Nationalist*innen argumentiert, dass das Russische im privaten und im Schulbereich bereits mehr als ausreichend geschützt sei, beispielsweise in den über hundert staatlich finanzierten Schulen mit bis zu 40 Prozent russischsprachigem Unterricht. Am 2. April hat der lettische Präsident Raimonds Vējonis Gesetze unterzeichnet, die zuvor von der Saeima, dem Parlament Lettlands, verabschiedet worden waren und in den Schulen verpflichtend einen Übergang von russischen oder zweisprachigen Lehrinhalten zu einem ausschließlich lettischen Unterricht vorsehen. Dieser Prozess soll im Laufe von drei Jahren abgeschlossen sein, zu Beginn des Schuljahrs 2021/2022. Jene, die das Gesetz unterstützen, führen das Ziel an, die Integration der russischsprachigen Minderheit zu fördern. Integration ist jedoch ein bilateraler oder multilateraler Prozess. Tatsächlich geht es also darum, Assimilation durch Lettisierung voranzubringen. Wahrscheinlich werden die Gesetze eine gegenteilige Wirkung haben. Russischsprachige Sekundarschüler*innen sind längst bilingual. Gesetzestreue kann erzwungen werden, Loyalität aber nicht. In Zeiten, in denen das Vertrauen zwischen Russland und den Staaten des Westens schwindet und die Spannungen zunehmen, kommen diese Gesetze zur Unzeit und erscheinen als unnötige Provokation.
Das Verhältnis von Mehrheit und Minderheit in Lettland
Die russischsprachigen Minderheiten in Lettland und dem benachbarten Estland sind eine der gravierenden politischen Hinterlassenschaften der UdSSR und ihres Zusammenbruchs 1991. Die baltischen staatlichen Nationalismen fußten und fußen auf der Vorstellung von einem kulturellen Überlebenskampf, in dem Sprache als ein vorrangiges Instrument fungiert. Lettland und Estland haben im Zuge ihrer Staatwerdung seit 1991 mit einem weitreichenden strategischen Widerspruch hantieren müssen. Einerseits konnte man die russische Minderheit nicht hinauswerfen und musste das Problem in situ bewältigen. Andererseits haben die westlichen Länder die baltischen Staaten zwischen 1998 und 2004 in die politische, wirtschaftliche und Sicherheitsarchitektur des Westens integriert, wobei der diskriminierende Umgang mit der russischsprachigen Bevölkerung weitgehend unbeachtet blieb. Angehörigen der russischsprachigen Minderheit im Baltikum wurde das Leben durch verfassungsrechtliche Manöver erschwert, indem man ihnen anfangs die Staatsangehörigkeit verweigerte, diese dann an lettische Sprachkenntnisse knüpfte, den Gebrauch des Russischen in der Öffentlichkeit begrenzte und dadurch „ethnische“ Lett*innen und Est*innen bevorzugte. 25 Jahre lang ist dieses Thema eine offene Wunde gewesen, auch vor dem breiteren Hintergrund der Beziehungen Russlands zu den Staaten des Westens. Aus der Perspektive Russlands ist die Konditionalität der EU hinsichtlich der Politik gegenüber der russischsprachigen Bevölkerung ein Beispiel für westliche „doppelte Standards“, durch die „Werte“ gegebenenfalls strategischen Interessen untergeordnet werden. Zu den Bedingungen für eine Aufnahme Lettlands in die EU (und in die NATO) gehörten die Verbesserung der Bürgerrechte und insbesondere eine verbesserte Sprachpolitik für die Russischsprachigen. Die insgeheimen Absprachen der westlichen Staaten zur vorzeitigen Schließung der OSZE-Mission 2001 in Lettland, die erfolgte, obwohl Lettland die Bedingung einer Einhaltung der Minderheitenrechte noch nicht vollständig erfüllt hatte, bedeuteten einen der ersten großen Einbrüche im Vertrauen zwischen Russland und dem Westen.
Die Sozialwissenschaft ist sich uneins über die Konsequenzen von politischen Zwangsmaßnahmen, die auf die Integration der russischsprachigen Bevölkerung abzielen. Es gibt zwei Theorien darüber, wie man mit gespaltenen Gesellschaften am besten umgehen sollte: durch Assimilation oder Integration von Minderheiten in die Mehrheitsgesellschaft, multikulturelle Ansätze, Konkordanzdemokratie und institutionelle Machtteilung oder komplexe Formen von Föderalismus, Autonomie und Dezentralisierung. Konkordanzdemokratie und Dezentralisierung sind auf Druck der EU und der USA auf dem Westbalkan und in Nordirland umgesetzt worden.
In den späten 1990er Jahren hatten US-Wissenschaftler wie David Laitin in den baltischen Staaten in der Verknüpfung von Staatsangehörigkeit und Sprache ein Mittel erkannt, das Anreize für eine Transformation der Identitäten bieten und „Russischsprachige in Balten verwandeln“ werde. In meiner eigenen Arbeit habe ich mich kritisch mit dieser rationalistischen Sicht auf die Funktionsweise einer ethnisch gespaltenen Gesellschaft auseinandergesetzt. Es geht nicht nur um den Umstand, dass Menschen sich möglicherweise nicht in der Lage sehen wollen, ihre Kultur gegen Chancen im Leben eintauschen zu müssen. Der rationalistische Ansatz ignoriert den möglichen Unwillen der assimilierenden Mehrheitsgesellschaft, die zu assimilierende Minderheit als gleichberechtigte Mitbürger*innen zu akzeptieren. Und er übersieht die zerstörerischen Folgen, die eine Geschichte diskriminierender Politiken auf Loyalität und Integration haben kann.
Entfremdung der russischsprachigen Bevölkerung
In einer Stellungnahme zu den neuen Gesetzen erklärte Präsident Vējonis, dass „Unterricht an Sekundarschulen in lettischer Sprache [...] eine kohärentere Gesellschaft und einen stärkeren Staat entstehen lassen wird“. Gleichzeitig spiegelt sich der Umstand, dass die Gesellschaft aus zwei Bevölkerungsteilen besteht, auch deutlich in der lettischen Politik wider: Die lettischen Mainstream-Parteien bilden über alle ideologischen Grenzen hinweg eher ein „ethnisches“ Regierungsbündnis, als dass sie mit der vorwiegend von Russischsprachigen unterstützten Sozialdemokratischen Partei Saskaņa koalieren würden. Diese undurchdringliche Wand auf dem Weg zur Gleichstellung innerhalb eines Staates entfremdet die russischsprachige Bevölkerung, selbst bei Erhalt der Staatsbürgerschaft und aktiven Versuchen der „Integration“. Die jüngste Bildungsreform wird diesen Prozess weiter verstärken, nun allerdings in einem gegenüber den 1990er Jahren im Inneren wie Äußeren radikal veränderten strategischen Umfeld.
Russlands Politik eines droit de regard [hier: Mitspracherecht] in Bezug auf seine „Landsleute“ im postsowjetischen Raum hat sich unter Putin seit den 2000er Jahren verhärtet. Sie dient zum Teil der Projektion von Macht und Einfluss, ist aber auch eine Reaktion auf diskriminierende Politik gegenüber russischen Diasporen. Die russische Annexion der Krim und die militärische Intervention in der Ostukraine 2014 machen deutlich, dass die Frage der „Landsleute“ nun eine der zentralen Säulen der russischen Sicherheitspolitik in der Region darstellt. Russischsprachige sind jetzt eine politisch und kulturell gestärkte Gemeinschaft innerhalb Lettlands. Die Frage ist also, wie sich deren Mobilisierung im Laufe der kommenden drei Jahre der Lettisierung weiter gestaltet. Es könnte zu Straßenprotesten kommen, denen dann dürftige Versuche folgen, die Kontrolle zu behalten und eine heftige Reaktion durch den Staat. In Russland wäre Empörung die Folge und wachsender Druck auf Putin, „etwas zu unternehmen“. Die Proteste könnten spontan und autonom erfolgen, oder aber von außen organisiert. Mitglieder des russischen Parlaments haben bereits über Sanktionen gegen Russland diskutiert. Das Repertoire potentieller Gegenmaßnahmen Lettlands ist breit. Unterdrückungsmaßnahmen gegen Minderheiten hätten absehbare Folgen, die von innerer Entfremdung und Unordnung bis hin zu äußerem Druck reichen.
Politische Fragen können nur dann bewältigt werden, wenn man sich des Problems bewusst ist. Doch scheut man in politischen Kreisen des Westens davor zurück, die Diskussion über die Rechte der russischsprachigen Minderheit zu eröffnen. Eine langfristige Beibehaltung des Russischen als Unterrichtssprache war seinerzeit eine wichtige politische Vorbedingung der EU für den Beitritt Estlands und Lettlands. Heute wird das Problem nur verengt wahrgenommen: im Kontext einer russischen Aggression gegen die baltischen Demokratien und hinsichtlich einer belastbaren Unterstützung durch EU und NATO gegen eine Einmischung Russlands.
Professor Dr. James Hughes ist Inhaber des Lehrstuhls für vergleichende Politikwissenschaft am Department of Government der London School of Economics & Political Science.