ZOiS Spotlight 14/2021

Russlandansichten in Deutschland nach der Vergiftung Nawalnys

Von Gwendolyn Sasse 14.04.2021
Die russische Botschaft in Berlin. IMAGO / Christian Spicker

Der Giftanschlag auf den russischen Oppositionellen Alexej Nawalny im August 2020 und seine Behandlung in der Berliner Charité haben sowohl seinen Namen als auch die deutsch-russischen Beziehungen im öffentlichen Diskurs in Deutschland stark präsent gemacht. Die Bundesregierung stellte Nawalny unter Personenschutz, übte scharfe Kritik am Vorgehen gegen die politische Opposition in Russland und drang auf weitere personenbezogene EU-Sanktionen. Die russische Regierung konterte mit scharfer Rhetorik und Gegensanktionen. Verändert sich in diesem Zusammenhang der Blick der Deutschen auf Russland?

Im November 2019 hatte das ZOiS zum ersten Mal eine Reihe von Fragen zu Russland in die regelmäßig bundesweit durchgeführte Online-Omnibus-Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ipsos eingestellt. Die Ergebnisse dieser Studie zeigten eine stärkere Russlandaffinität in Ostdeutschland, wobei der Wohnort wichtiger war als der Geburtsort, und deutschlandweit deutliche Alters- und Geschlechterunterschiede, bei denen Jüngere und Männer russlandaffiner waren. Deutlich erkennbar war auch eine enge Verbindung zwischen AfD-Orientierung und positiven Assoziationen mit der Politik und dem Stil des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Detailliertere Fokusgruppendiskussionen im Anschluss an die Umfrage unterstrichen die Gemeinsamkeiten hinter den Russlandaffinitäten in Ost- und Westdeutschland: Neben einem weithin eingestandenen Mangel an Wissen über Russland zeigten die soziodemographisch und parteipolitisch divers besetzten Diskussionen, dass Russland und sein Präsident in erster Linie als eine Projektionsfläche dienen, auf der Enttäuschungen über die deutsche Innen- und Außenpolitik verhandelt werden.

Neue Ipsos-Umfrage

Im November 2020 stellte das ZOiS im Rahmen der Ipsos-Erhebung erneut Fragen zu Russland und nahm hier bewusst die Deutschlandbezogenheit der Russlandansichten auf, die aus den Fokusgruppendiskussionen hervorging. Die Ipsos-Befragung erreicht in Privathaushalten lebende Internetnutzer*innen zwischen 16 und 75 Jahren. Im November 2020 wurde eine repräsentative Stichprobe von 1.078 Personen nach Alter, Geschlecht, Region und Berufstätigkeit (ja/nein) gezogen.

Auf die Frage „Woran denken Sie, wenn Sie den Namen Wladimir Putin hören?“ konnten die Befragten unter verschiedenen Optionen auswählen: 32 Prozent dachten „an Repressionen in Russland“, 30 Prozent „an eine Bedrohung für Europa“, 24 Prozent „an einen effektiven Präsidenten“ und 14 Prozent an etwas Anderes.

Im Vergleich zu 2019 waren Ende 2020 zwei Assoziationen stärker ausgeprägt: der Gedanke an eine Bedrohung für Europa, aber auch die Sicht auf Putin als effektiven Präsidenten. Diese Veränderung in zwei Richtungen deutet auf eine größere Spaltung in der deutschen Gesellschaft hin. Den Namen Alexej Nawalny kann die Mehrheit korrekt verorten: 57 Prozent erkannten ihn als russischen Oppositionellen, während etwa 36 Prozent seinen Namen nicht kannten oder sich unsicher waren und knapp 7 Prozent ihn für ein Mitglied der russischen Regierung hielten.

Bei der Beurteilung der derzeitigen deutsch-russischen Beziehungen war im November 2020 die Hälfte der Befragten der Meinung, die Beziehungen sollten enger sein; 31 Prozent hielten die Beziehungen für „genau richtig“, und weitere 19 Prozent für „zu eng“. Im Vergleich zu 2019 ist 2020 ist vor allem die Unsicherheit bei der Beantwortung dieser Frage gestiegen, insbesondere unter Frauen, Befragten mit niedrigerem Bildungsgrad und ohne jegliche Parteienaffinität. Darüber hinaus ist die Wahrscheinlichkeit, die Beziehungen für „zu eng“ zu halten, etwas gestiegen, insbesondere unter Älteren, Männern und denjenigen mit höherem Bildungsgrad und Einkommen. Der Wunsch nach engeren Beziehungen ist in Ostdeutschland ausgeprägter als in Westdeutschland.

Erstaunlicherweise sind die Russlandansichten nur sehr bedingt von persönlichen Kontakten nach Russland geprägt: Knapp unter 11 Prozent gaben an, Kontakte nach Russland zu haben. Insbesondere jüngere Altersgruppen und eine Parteienaffinität zur AfD, SPD oder der Linken gehören zum Profil derjenigen, die persönliche Kontakte nach Russland pflegen. Herkunft aus Ostdeutschland, ein höherer Bildungsgrad und männlich zu sein sind weitere, allerdings schwächer korrelierende Faktoren.

Russland als Spiegel

Um den starken Deutschlandbezug der Russlandansichten, der in den Fokusgruppendiskussionen 2019 ersichtlich wurde, deutschlandweit unter die Lupe zu nehmen, wurde in die Umfrage im November 2020 folgende Frage eingebaut: „Gibt es Ihrer Ansicht nach Dinge, die Bundeskanzlerin Angela Merkel vom russischen Präsidenten Wladimir Putin lernen könnte?“ Eine Mehrheit von 57 Prozent verneinte diese Frage mit Bezug auf Deutschlands demokratische Prinzipien. Allerdings fanden es etwa 43 Prozent nicht abwegig, dass die deutsche Politik sich in bestimmten Bereichen ein Beispiel am russischen Präsidenten nehmen sollte: Fast 16 Prozent äußerten den Wunsch, dass Kanzlerin Merkel wie Putin in ihrer Politik stärker die nationale Identität betonen sollte; 15 Prozent wünschten sich, dass Merkel sich international so durchsetzen könne wie Präsident Putin, und weitere 12 Prozent wünschten sich Putins innenpolitische Durchsetzungskraft. Diese Ergebnisse spiegeln den Trend aus den Fokusgruppendiskussionen wider: Es geht bei Fragen zu Russland auch um einen Maßstab für die empfundenen Schwächen deutscher Politik und weniger um eine direkte Beurteilung der russischen Politik. Diese wird durchaus, wie die Umfrage zeigt, von insgesamt über 60 Prozent als kritisch gesehen, entweder als Bedrohung oder als mit Repressionen verbunden.

Bei allen Antworten auf die Frage, was die deutsche Bundeskanzlerin vom russischen Präsidenten lernen könnte, ist die Unterscheidung zwischen Ost- und Westdeutschland (Geburtsort und Wohnort) irrelevant. Auch andere soziodemographische Faktoren sind durchgängig weniger wichtig als die jeweilige Hauptassoziation mit Putin, das heißt die Bewertung des russischen Präsidenten ist eng mit der Erwartung an die deutsche Politik verbunden. Eine Vorstellung von Putin als effektivem Präsidenten ist ein wichtiger Bestandteil des Wunsches nach einer stärkeren Betonung von nationaler Identität sowie größerer Durchsetzungskraft in der deutschen Politik.

Im Nachgang des Anschlags auf Nawalny und seiner Behandlung in Berlin haben sich die Russlandansichten in Deutschland polarisiert: Im Vergleich zu 2019 wird Russland nun stärker als Bedrohung wahrgenommen, aber zugleich erscheint Präsident Putin auch verstärkt als „effektiver Präsident“. Erwartungen an die deutsche Politik spielen eine zentrale Rolle in der Bewertung des russischen Präsidenten und seiner Politik – ein Zusammenhang, der mehr Aufmerksamkeit im öffentlichen Diskurs verdient.


Gwendolyn Sasse ist die wissenschaftliche Direktorin des ZOiS. Im Projekt Russland2 erforscht sie die Haltungen der Deutschen zu Russland.