Russlands andere Geschichte(n)
Es ist ein zentrales Anliegen des russischen Staates, jungen Menschen die ‚richtige‘ Version der Geschichte ihres Landes zu vermitteln. In Schulen und Jugendorganisationen, aber auch im kulturellen Bereich, wendet Russland enorme Ressourcen auf, um ein solches historisches Narrativ zu implementieren. Wichtigster historischer Bezugspunkt ist dabei der (russisch-)sowjetische Sieg im Zweiten Weltkrieg, der verkürzt gesagt als Beispiel für den Heldenmut und die Opferbereitschaft der Menschen sowie die Stärke des Staats steht. (Tatsächlich zeigen ZOiS-Umfragen, dass der Zweite Weltkrieg für junge Russ*innen das wichtigstes Ereignis in der Geschichte ihres Landes ist.) Für Ereignisse, die diese trotz aller menschlichen Verluste letztlich positive Erzählung unterlaufen könnten, ist dabei kein Platz. Die Omnipräsenz des staatlichen Geschichtsnarrativs – gerade im Jahr 2020, in dem sich das Ende des Zweiten Weltkriegs das 75. Mal jährte – täuscht allerdings darüber hinweg, dass es in Russland durchaus Versuche gibt, Kindern und Jugendlichen die eigene Geschichte anders zu erzählen. Besonders auffällig geschieht das im Bereich Kinder- und Jugendliteratur.
Kinder- und Jugendliteratur hat nicht nur einen unterhaltenden, sondern in vielen Fällen auch einen pädagogischen Aspekt. Jungen Leser*innen soll über eine altersgerecht erzählte Geschichte konkretes Wissen oder bestimmte Verhaltensweisen vermittelt werden. In der Sowjetunion wurde das Potenzial einer mit der Staatsideologie konformen Kinder- und Jugendliteratur früh erkannt und gefördert.[1] Heute gibt es – außerhalb von Schulbüchern – kaum noch staatliche Bemühungen, das Geschichtsbild junger Menschen über Literatur zu prägen. Wenn staatliche oder staatsnahe Organisationen Leseempfehlungen geben, handelt es sich in der Regel um sowjetische Klassiker, die auch in der Erwachsenenliteratur das Gros der literarischen Texte zum Zweiten Weltkrieg ausmachen. So rät Yunarmiya, die Kinder- und Jugend-Militär-Erziehungsorganisation Russlands, ihren Mitgliedern zur Lektüre von Boris Polewois Die Geschichte vom wahren Menschen (1947) und die inzwischen weitgehend vom Staat vereinnahmte gesellschaftliche Bewegung Unsterbliches Regiment verlegte 2017 eine um Zeitzeugenberichte ergänzte Auflage von Valentin Kataews Der Sohn des Regiments (1945). Beide Texte sind mit ihren positiven Helden, die dank ihrer sowjetischen Tugenden alle Schwierigkeiten überwinden, Musterbeispiele des sozialistischen Realismus. Kritische Untertöne, in anderen Texten dieser Zeit durchaus vorhanden, sucht man in ihnen vergeblich.
Ein Jahrhundert in Wimmelbildern
In der zeitgenössischen russischen Kinder- und Jugendliteratur finden sich indes erstaunlich viele Texte, die zeigen, dass Geschichte nicht schwarz-weiß ist. Ein besonders anschauliches Beispiel dafür ist – nicht nur wegen seiner farbigen Illustrationen – das erstmals 2017 erschienene Bilderbuch In einem alten Haus in Moskau. Ein Streifzug durch 100 Jahre russische Geschichte (im russischen Original: Die Geschichte einer alten Wohnung) von Alexandra Litwina (Text) und Anna Desnitskaya (Illustration). Das Buch erzählt auf nur 56 Seiten die Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert. Dafür wählen die Autorinnen ein gängiges künstlerisches Verfahren: Sie erzählen das Große im Kleinen, machen eine Epoche anhand von individuellen Schicksalen zugänglich. In 13 datierten Episoden schildern sie das Leben einer Moskauer Familie von Jahrhundertwende zu Jahrhundertwende. Während die Protagonist*innen wechseln, bleibt der Handlungsschauplatz stets derselbe: die Wohnung der Familie, die in jeder Episode ganz oder in Ausschnitten abgebildet ist. Durch die beengten Wohnverhältnisse infolge der Kommunalisierung der Wohnung nach der Oktoberrevolution 1917 entwickeln die detailreichen Darstellungen der Wohnräume den Charakter eines Wimmelbilds, das zum genauen Hinschauen einlädt. Neben den älter werdenden Bewohner*innen bilden das Hinzukommen und Verschwinden von Mobiliar, technischen Geräten oder Kinderspielzeug den Wandel der Zeit ab. Erzählt werden die Episoden von wechselnden kindlichen Ich-Erzähler*innen, die zwischen 5 und 12 Jahren alt und damit im Alter der primären Zielgruppe des Bilderbuchs sind, was den Betrachter*innen und Leser*innen die Identifikation mit ihnen ermöglicht. In ihren Erzählungen berichten die Protagonist*innen von einem Tag im Leben ihrer Familie, der meist mit einem konkreten historischen Ereignis verbunden ist. Ihre Schilderung zeigt, wie sich dieses Ereignis – seien es die stalinistischen Repressionen, der Zweite Weltkrieg oder Juri Gagarins Weltraumflug – auf das Leben der Familie auswirkt. Ergänzt werden die kindlichen Erzählungen um kindgerecht formulierte Informationen und Erklärungen zum übergeordneten historischen Ereignis auf der darauffolgenden Doppelseite.
Ein Buch zum Mitmachen und Nachfragen
Die Autorinnen integrieren auch solche historischen Ereignisse in ihr Buch, die im offiziellen russischen Geschichtsnarrativ keine Beachtung finden. Dazu gehören die stalinistischen Repressionen, aber auch die fortdauernde Unterdrückung Andersdenkender in der Breschnew-Zeit. Dass eine solche differenzierte Geschichte, die das Individuum in den Mittelpunkt der Erzählung stellt, auf Interesse in der russischen Bevölkerung stößt, zeigt der beispiellose Erfolg des Bilderbuchs. Seit 2017 wurde es mehrfach neuaufgelegt, die Besprechungen in der russischen Presse sowie Kundenbewertungen auf Online-Plattformen sind mehrheitlich positiv, es erhielt zahlreiche Preise. Darüber hinaus ist das Buch ein seltener Exportschlager aus dem russischen Kinderbuchsegment. Bislang erschien es in Übersetzung in Deutschland, Frankreich, den USA und demnächst auch in Italien. Für diesen internationalen Zuspruch dürfte allerdings weniger die differenzierte Geschichtsdarstellung als die ungewöhnliche Gestaltung des Buchs verantwortlich sein.
In einem alten Haus in Moskau ist explizit ein Buch zum Mitmachen. Es soll nicht einfach konsumiert werden, sondern zum Suchen, Nachfragen und Erzählen anregen. Die besondere Rezeptionssituation – Bilderbücher werden in der Regel von Kindern und Erwachsenen gemeinsam betrachtet – fördert den Austausch zwischen den Generationen und kann dazu anregen, die eigene Familiengeschichte zu erkunden, die nicht nur heldenhaft, sondern auch tragisch und widersprüchlich sein kann, ohne dass sie dabei zu einer negativen Geschichte werden muss, was auch die Autorinnen immer wieder betonen. Insofern lässt sich In einem alten Haus in Moskau durchaus als eine „Alternative zu der vom Staat angebotenen Geschichtsversion“ lesen, wie es die Verlegerin des Buchs, Irina Balachanowa, ausdrückt.
[1] Allerdings bevorzugten auch sowjetische Kinder und Jugendliche spannende Detektiv- und Abenteuergeschichten gegenüber schablonenhaften Produktionsromanen. Ausführlich dazu: Marina Balina: Creativity Through Restraint: The Beginnings of Soviet Children's Literature, in: Russian Children's Literature and Culture, edited by Marina Balina/Larissa Rudova, New York/Abingdon 2008.
Nina Frieß ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS. Gemeinsam mit Félix Krawatzek forscht sie zu historischen Narrativen für junge Menschen und deren Wahrnehmung.