Russlands arktischer Balanceakt
Russlands Ambitionen in der Arktis haben erneut für Irritationen gesorgt, insbesondere seit Russland im Mai den rotierenden zweijährigen Vorsitz des Arktischen Rats übernommen hat. Vor Kurzem stellte Russland zwei neue Anträge bei der UN-Kommission zur Begrenzung des Festlandsockels, die bereits früher erhobene Gebietsansprüche erneuerten. Länder, die über Territorium im Polarkreis verfügen, können nur den 370 Kilometer breiten Streifen entlang ihrer Küste als „Ausschließliche Wirtschaftszone“ für sich beanspruchen. Staaten können jedoch Anträge stellen, um darüberhinausgehende Gebiete als Teil des eigenen Festlandsockels anerkannt zu bekommen. Russland versucht derzeit, seine Gebietsansprüche darüber hinaus in die Polarregion auszuweiten, die es als Teil seines Festlandsockels betrachtet.
Diese Gebietsansprüche, die fast den gesamten Arktischen Ozean umfassen, überschneiden sich mit denen Kanadas und Dänemarks, zwei weiteren arktischen Anrainerstaaten. Laut dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen gehört der Nordpol niemandem, weshalb es im arktischen Meer keine klaren Grenzen zwischen den unterschiedlichen Anrainerstaaten gibt. Die russische Regierung möchte ihren zweijährigen Ratsvorsitz nun dafür nutzen, ihre Agenda voranzutreiben. Dazu zählen zum Beispiel Pläne eine Tagung des Rats am Nordpol organisiert werden.
Der Arktische Rat, der am 19. und 20. Mai mit einem Außenministertreffen in Reykjavik sein fünfundzwanzigjähriges Bestehen feierte, ist ein Forum zur gegenseitigen Beratung und Zusammenarbeit, das aus acht arktischen Mitgliedsstaaten und einer Reihe weiterer Beobachterstaaten besteht. Bei den zweimal jährlich stattfindenden Treffen werden Umweltfragen, Probleme der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung, sowie weitere Herausforderungen diskutiert, mit denen Staaten und indigene Völker der Arktisregion konfrontiert sind. Russland übernimmt nun nach 2004 bis 2006 zum zweiten Mal den Vorsitz des Rates. Wenn sich auch die offiziellen Ziele dieses Mal nicht vom letzten russischen Ratsvorsitz unterscheiden, so hat sich seitdem doch viel verändert. Insbesondere die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen haben sich seit Mitte der 2000er-Jahre massiv verschlechtert.
Nach Angaben des russischen Sonderbotschafters und Angehörigen der russischen Delegation beim Arktischen Rat Nikolai Kortschunow gehört die „nachhaltige Entwicklung“ der Arktisregion zu den höchsten Prioritäten Russlands. Was mit diesem Begriff genau gemeint ist, lässt Moskau jedoch weitestgehend offen.
Die neue Strategie Russlands in der Arktis
Im Oktober 2020 beschloss Russland eine überarbeitete Nationale Arktis-Strategie, die bis zum Jahr 2035 gelten soll. Der Hauptunterschied zu vorherigen Strategiepapieren mit ihren vereinheitlichten Vorgaben ist nun ein regional spezifischer Ansatz, der bestimmte Teile des Hohen Nordens Russlands priorisiert. Zu den regionalen Herausforderungen gehören die Verbesserung der Infrastruktur, die Erschließung natürlicher Ressourcen und die Diversifizierung der lokalen Wirtschaft. Nach Angaben des Ministers für die Entwicklung des russischen Fernen Ostens und der Arktis Aleksandr Koslow legt die Strategie besonderen Wert auf die sozioökonomische Entwicklung der Region. So soll angeblich die Lebensqualität im Hohen Norden verbessert werden. Die Vorstellung dahinter ist, dass durch das Anwerben von Humankapital dem Problem des fortwährenden Bevölkerungsrückgangs in der Region vorgebeugt werden soll.
Im Mittelpunkt der russischen Infrastrukturpläne steht die Nordostpassage (Northern Sea Route, NSR). Aus Sicht Moskaus handelt es sich dabei um eine langfristige, strategische Investition, mithilfe derer ein „umweltverträglicher Korridor“ geschaffen werden soll. Damit gehen weitere Großinvestitionen einher, zum Beispiel in eine neue Eisbrecherflotte, marine Infrastruktur an strategischen Knotenpunkten des Nördlichen Seewegs und verbesserte Navigationsfähigkeiten im Weißmeer-Ostsee-Kanal und den Wasserstraßen des Hohen Nordens.
Ein weiterer Teil der Strategie ist die Digitalisierung der Arktis, in deren Rahmen insbesondere die Konnektivität verbessert werden soll. Dazu soll ein 14.000 Kilometer langes Glasfaserkabel namens „Arctic Connect“ durch die gesamte Nordostpassage verlegt werden. Um die wirtschaftliche Nachhaltigkeit der Projekte zu gewährleisten, soll nach den Vorstellungen von Regierungsvertreter*innen ein Großteil der Investitionen durch private Unternehmen abgedeckt werden. Den Unternehmen, die im Norden investieren, wurden deshalb Steuererleichterungen versprochen.
Obwohl das Thema Militarisierung in dem Strategiepapier nur am Rande eine Rolle spielt und russische Verantwortliche versichert haben, weiterhin auf Kooperation setzen zu wollen, gehört es zu den erklärten Zielen der neuen Strategie, die militärischen Kapazitäten in der Region auszubauen. Von den geplanten Ausgaben aus dem nationalen Haushalt soll ein Großteil in diesen Ausbau fließen. Vertreter*innen des russischen Militärs haben zwar wiederholt betont, dass diese Maßnahmen ausschließlich legitimen Verteidigungszwecken in der Region dienen würden. Nichtsdestotrotz sorgt die militärische Aufrüstung bei anderen arktischen Staaten für Misstrauen. Die US-Regierung unter Präsident Joe Biden scheint deshalb ihre Strategie zu ändern mit dem Ziel, dass die USA und die NATO wieder Einfluss in der Region zurückgewinnen. Als Beleg dafür könnte die jüngste Entscheidung genommen werden, ein strategisches Bombergeschwader auf dem norwegischen Luftwaffenstützpunkt Ørlandet zu stationieren.
Offizielle und tatsächliche Agenda unterscheiden sich
Einige der weitreichenden Ambitionen, die Russland mit seiner neuen arktischen Strategie verfolgt, können und sollten mit Vorsicht betrachtet werden. Gleiches gilt für die offizielle russische Agenda für den Vorsitz des Arktisches Rats, die sich größtenteils mit der neuen Strategie deckt.
Russland hat versprochen, die Lebensbedingungen der 2,4 Millionen Bewohner*innen der Arktis zu verbessern, im nationalen Haushalt für 2021-2023 jedoch nur 190 Millionen Euro dafür zur Verfügung gestellt. Darüber hinaus hat die russische Regierung angekündigt, verstärkte Anstrengungen zu unternehmen, um die Polarregion auf die Folgen des globalen Klimawandels vorzubereiten und ihnen gegenüber widerstandsfähiger zu machen. Vor diesem Hintergrund ist auch geplant, eine erste internationale Forschungsstation einzurichten, die den Klimawandel vor Ort in der Arktis untersucht. Auf der anderen Seite ist Russland jedoch weiterhin entschlossen, die riesigen Ressourcenvorkommen in der Arktis auszubeuten.
Darüber hinaus sind mehrere Projekte geplant, um das kulturelle, historische und sprachliche Erbe der indigenen Völker des Hohen Nordens zu bewahren. Angesichts der angespannten Beziehungen zwischen den russischen Behörden und der Russischen Vereinigung der Indigenen Völker des Norden (Russian Association of Indigenous Peoples of the North, RAIPON) handelt es sich dabei um einen bemerkenswerten Schritt. In der Vergangenheit war die Organisation immer wieder Schikanen, Zensurmaßnahmen und generell einer geringschätzigen Behandlung seitens der russischen Behörden ausgesetzt. Sie wurde sogar als „ausländischer Agent“ eingestuft.
Der Arktische Rat ist für Russland weiterhin unverzichtbar
Auf dem Papier hat der Arktische Rat auch unter dem neuen russischen Vorsitz das Ziel, Vertrauen zwischen den Mitgliedern zu schaffen und Zusammenarbeit zu fördern. Kritiker*innen weisen jedoch darauf hin, dass die Resolutionen und Entscheidungen des Rats nicht bindend sind. Ein jahrelanges Prinzip ist zudem die Verständigung darauf, militärische oder sicherheitspolitische Fragen nicht in diesem Rahmen zu diskutieren. Russische Vertreter*innen haben sich hingegen wiederholt dafür ausgesprochen, zu einem 2014 ausgesetzten Dialog zwischen militärischen Vertreter*innen der Mitgliedsstaaten zurückzukehren. Laut dem russischen Außenminister Sergej Lawrow wären jährliche Treffen der Generalstabschefs ein wirksames Mittel, die Sicherheit in der Region zu gewährleisten. Aus russischer Sicht gibt es einen entscheidenden Grund, warum der Arktische Rat nach wie vor unverzichtbar ist: Er stellt einen der wenigen verbliebenen Kommunikationskanäle zwischen Russland und Mitgliedsstaaten der NATO dar.
Nadja Douglas ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS.