Russlands unabhängige Soziologie unter Druck
Bis heute überwiegt in Russland die Vorstellung von der Soziologie als einer Wissenschaft, die dem Staate dienen soll. Der Staat versucht nicht nur die Lehre in den Universitäten zu kontrollieren, sondern auch die Forschungsprogramme in den Einrichtungen der Akademien. Ja selbst anerkannte „Generäle der Soziologie“ finden es normal, dass „die Soziologie der Staatsmacht dabei behilflich ist, ihre Machtfunktionen wahrzunehmen [sowie] Kultur und Effizienz der staatlichen Verwaltung zu erhöhen“ (Michail Gorschkow, Direktor des Institutes für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften, RAN).
Angesichts der Dominanz dieser „staatstragenden“ Soziologie müssen jene Forscher, die sich nicht in die gesteckten Kontrollrahmen fügen, mit ernsten Schwierigkeiten rechnen. Da Soziolog*innen mit dem Staat in einer Arena um politisches Kapital konkurrieren müssen, sind sie meist genötigt, sich den von den Bürokrat*innen und Funktionär*innen bestimmten Spielregeln anzupassen. Wenn sie in staatlichen Universitäten oder Einrichtungen der Akademien arbeiten, sind sie allemal von diesen Spielregeln abhängig.
Ein beträchtlicher Teil des Arbeitsfeldes wird heute allerdings – anders als zu Sowjetzeiten – von unabhängiger Soziologie belegt. Dazu können zum einen jene Wissenschaftler*innen gerechnet werden, die sich in Universitäten und Akademie-Instituten mit Themen zu befassen versuchen, die für sie interessant sind, jedoch nicht von oben gutgeheißen werden. Zweitens sind es diejenigen, die in der „Grant Economy“ arbeiten und dabei versuchen, sich der Kontrolle durch die Obrigkeit so weit wie möglich zu entziehen.
Schwierige Bedingungen für Unabhängige
Das Tätigkeitsfeld für Unabhängige schrumpft beständig. Nach sowjetischem Vorbild ist für Veröffentlichungen oder Konferenzauftritte im Ausland eine Genehmigung der Sicherheitsdienste notwendig, die prüfen, ob in den Texten nicht irgendetwas „Subversives“ steckt. Wissenschaftler*innen können wegen Andersdenkens entlassen werden, selbst dann, wenn sie einfach in sozialen Netzwerken irgendetwas Kritisches gegenüber dem Staat äußern.
Besonders schwierige Bedingungen ergeben sich jedoch für jene Forschungsorganisationen, die außerhalb der unmittelbaren Kontrolle des Staates tätig sind. Es sind nur wenige, und die meisten von ihnen sind als nichtkommerzielle Organisationen registriert, die von verschiedenen Stiftungen Zuwendungen für Forschungsarbeiten erhalten. Einige verdienen sich ihr Geld zum Teil durch kommerzielle Umfragen. Und es versteht sich von selbst, dass sie alle ständig voreingenommenen Prüfungen durch diverse Aufsichtsbehörden unterzogen werden – von der Brandschutzinspektion bis zur Staatsanwaltschaft.
2012 wurde das berüchtigte Gesetz über „ausländische Agenten“ verabschiedet, das die Arbeitsmöglichkeiten für nichtkommerzielle Organisationen (russ.: NKO) stark einschränkte, auch für jene, die Forschung betreiben. Der Staat zählte nun jene Organisationen des nichtkommerziellen Sektors zu „ausländischen Agenten“, die eine Finanzierung jedweder Art aus dem Ausland erhalten und zugleich politisch tätig sind. Dabei wurde unter „politischer Betätigung“ praktisch jede Kritik in Bezug auf den Staat und dessen Innen- oder Außenpolitik verstanden.
Da in dem verabschiedeten Gesetz ein Passus enthalten war, dem zufolge Wissenschaftsorganisationen von dem Gesetz ausgenommen sind, schien diesen keine Gefahr zu drohen. Später erfolgte jedoch die Klarstellung, dass zu politischer Tätigkeit auch „Massenumfragen und andere soziologische Forschungen“ gezählt werden. Dadurch wurde der Soziologie das Recht genommen, als Wissenschaft bezeichnet zu werden.
Nach der Verabschiedung dieses Gesetzes erfolgten heftige Repressionen gegen nichtstaatliche Forschungszentren. Sie wurden wegen angeblicher Verstöße gegen das Gesetz mit enormen Strafen von bis zu 10.000 Euro belegt. Überhaupt kam die Existenz als „ausländischer Agent“ unerträglich teuer zu stehen. Einige Zentren lösten sich daher auf (das bekannteste ist wohl das Zentrum für Genderforschung in Saratow), andere verzichteten nun auf Gelder aus dem Ausland, in der Hoffnung, aus dem betreffenden Register gestrichen zu werden.
Repressionen gegen nichtstaatliche Forschungszentren
Das war beispielsweise der Weg, den das wohlbekannte Lewada-Zentrum einschlug, das nach entsprechenden Drohungen auf ausländische Unterstützung verzichtete (wodurch eine Reihe von Projekten aufgegeben werden mussten). Doch all solcher Vorsicht zum Trotz wurde das Zentrum als „ausländischer Agent“ eingestuft. Da damit das Verbot einer Einmischung in den Wahlkampf verbunden ist, kam das für das Lewada-Zentrum einem Verbot gleich, Umfrageergebnisse zu veröffentlichen, die im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen vom 18. März gemacht wurden. Die Gesellschaft verlor so den Zugang zu alternativen Daten und hat dadurch keine Möglichkeit, einen Abgleich mit den dienstfertigen Zahlen der treu ergebenen staatsnahen Umfrageinstitute vorzunehmen.
Besonders traurig ist es, mit anzusehen, welcher Druck auf die Europäische Universität in St. Petersburg ausgeübt wird, die ebenfalls auf ihre ausländischen Sponsoren verzichtet hatte, einer Aufnahme in das berüchtigte Register zwar entkommen, aber dennoch destruktiven Repressionen ausgesetzt war. Mit fingierten Begründungen wurde der Universität nicht nur das historische Gebäude genommen, in dem sie untergebracht war, sondern auch die Lizenz für ihre Lehrtätigkeit, obwohl es im Bereich der Sozialwissenschaften die beste Universität Russlands war.
Die ersten Repressionen hatten die Universität vor zehn Jahren getroffen, als die Hochschule nach angedrohter Schließung genötigt war, auf Fördermittel der Europäischen Union (Umfang: 700.000 Euro) zu verzichten, die für ein Monitoring der Wahlen bestimmt waren. Heute gehen die Behörden unter anderem gegen die Genderforschung vor, einen Bereich, in dem die Wissenschaftler*innen der Europäischen Universität ein unbestritten hohes Ansehen genießen. Die Universität besteht jetzt als Forschungsinstitut weiter und hofft auf eine Wiedererlangung der Lehrlizenz.
Auch eine der ältesten und wichtigsten Forschungsinstitute Russlands, das 1991 gegründete Zentrum für unabhängige Sozialforschung in St. Petersburg, das seit nunmehr neun Jahren die im Westen wohlbekannte Zeitschrift Laboratorium: Russian Review of Social Research herausgibt, befindet sich in einer schwierigen Lage. Das Zentrum existiert seit drei Jahren als „ausländischer Agent“ und hat die Aussicht selbst auf eine kärgliche Förderung aus Russland eingebüßt. Sehr viel größere Probleme entstanden jedoch für die Feldforschung, da es für die Soziolog*innen nicht mehr möglich ist, sich mit Vertreter*innen der Bürokratie zu treffen (dadurch ging Zugang zu staatlichen Einrichtungen verloren). Auch Vertreter*innen der Wirtschaft scheuen den Umgang mit unabhängigen Soziolog*innen, da sie Repressionen fürchten, während einfache Bürger*innen die Wortverbindung „ausländischer Agent“ schlichtweg als „Spion“ und „Volksfeind“ interpretieren.
Der Staat hat den Raum der Freiheit in all den letzten Jahren planmäßig „gesäubert“. Die kritische Funktion der Soziologie steht in markantem Widerspruch zu den Forderungen nach Loyalität gegenüber dem Staat. Es entsteht der Eindruck, dass unabhängige Sozialwissenschaft im autoritären russischen Staat nicht bestehen kann. Wie unlängst noch in der Sowjetunion können sich nur jene Sozialforscher*innen über Wasser halten, die auch die Interessen des Regimes bedienen. Für jene Soziolog*innen aber, die unabhängig bleiben wollen, ergeht praktisch ein Berufsverbot.
Viktor Voronkov ist der Direktor des Centre for Independent Social Research (CISR) in St. Petersburg. Das Institut wurde 2015 als ausländischer Agent registriert.