ZOiS Spotlight 3/2021

Schrumpfendes Transnistrien – älter, einseitiger und abhängiger

Markt im transnistrischen Bendery Roberto Cornacchia / Alamy Stock Foto

Von 1990 bis 2019 ist die Bevölkerungszahl von Transnistrien schätzungsweise um 35 Prozent von ca. 706.000 auf 465.000 Einwohner*innen zurückgegangen. Inoffizielle Schätzungen gehen von einer noch niedrigeren Bevölkerungszahl aus. Der Anteil der Rentner*innen steigt kontinuierlich, während die Zahl junger Menschen sinkt. Dies hat auch Folgen für die Stabilität in der Region und für den ungelösten Konflikt um den De-facto-Staat auf dem Gebiet der Republik Moldau.

Perspektivlosigkeit junger Menschen

Seit dem Ende des Kalten Krieges sinken in den Ländern Ost- und Südosteuropas die Bevölkerungszahlen rapide. Viele Menschen wandern ab, weil Unternehmen geschlossen wurden und Arbeitsplätze verloren gingen oder weil die Löhne niedrig sind. Besonders hart trifft es postsowjetische De-facto-Staaten wie Transnistrien. Hatten schon die gewaltsamen Auseinandersetzungen im Jahr 1992 zur Flucht aus der Region geführt, kommt hier die besonders problematische Situation durch die fehlende internationale Anerkennung hinzu. Sie führt zu einer ökonomisch anhaltend schwierigen Lage und schränkt die Zukunftsperspektiven der Menschen stark ein.

Zuverlässige Zahlen zu Wanderungsbewegungen in und aus Transnistrien sind schwer einzuschätzen. Während Ausländer*innen registriert werden, werden temporär oder dauerhaft Ausreisende nicht vollständig gemeldet. Die Bewohner*innen Transnistriens verfügen über unterschiedliche Pässe, die ihnen den Grenzübertritt ermöglichen und es unklar lassen, ob sie als Moldauer*innen, Rumän*innen, Russ*innen oder Ukrainer*innen das Land verlassen. Es sind überwiegend junge Menschen im Alter von 15 bis 34 Jahren, etwa zu gleichen Teilen Männer und Frauen, die ausreisen, um zu arbeiten oder zu studieren. Von 2012 bis 2018 stieg der Anteil der ausreisenden Kinder von 12 auf 15 Prozent – ein Indiz dafür, dass inzwischen viele mit ihren Familien und somit dauerhaft die Region verlassen.

Die kontinuierlich abnehmenden Bevölkerungszahlen gehen auch auf sinkende Geburtenraten zurück. Zum einen leben weniger junge Frauen in der Region, zum anderen bekommen diese auch weniger Kinder. Damit verschiebt sich die Zusammensetzung der Bevölkerung. Der Anteil der Menschen im Rentenalter stieg beispielsweise zwischen 2004 und 2015 von 19,9 Prozent auf 27,7 Prozent und entsprechend reduziert sich die Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter.

Landflucht und innerregionale Migration

Der Bevölkerungsrückgang ist verbunden mit einer Entleerung der ländlichen Räume und einer Zuwanderung in die Städte. Tiraspol oder Bendery/Tighina ziehen Bewohner*innen an, die sich dort gesteigerte Verdienstmöglichkeiten und bessere Bildungschancen erhoffen. Hier ist die Anzahl der Zugewanderten hoch, während in ländlichen Räumen ältere Generationen verharren oder Siedlungen leerstehen. Regionen wie Kamenka im Norden oder Grigoriopol und Dubossary im Zentrum Transnistriens haben zwischen 20 und 40 Prozent ihrer Bevölkerung verloren. Von den Städten aus ist der nächste Schritt oft, an der internationalen Migration teilzunehmen, während die ländliche Bevölkerung die internen Bevölkerungsbewegungen bestimmt. Insgesamt verlangsamt sich diese Bewegung, da jüngere Generationen das Land verlassen und überwiegend Pensionär*innen zurückbleiben.

Auch zwischen der Republik Moldau und ihrer De-facto-Republik gibt es kleinteilige Wanderungsbewegungen, was auf eine positive Verflechtung zwischen den beiden Regionen hindeutet. So ziehen einige russischsprachige Studierende oder Rentner*innen aus Moldau aufgrund niedriger Lebenshaltungskosten und zum Studieren in russischer Sprache Transnistrien vor. In umgekehrter Richtung pendeln viele täglich oder wöchentlich in die Republik Moldau, um zu arbeiten oder zu studieren.

Abwanderung und Abhängigkeit

Ein Bevölkerungsrückgang von 35 Prozent in Transnistrien über einen Zeitraum von fast 30 Jahren hat einen deutlichen Einfluss auf verschiedene Lebensbereiche sowie die wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Stabilität der Region.

Der Verlust qualifizierter junger Generationen und die niedrige Bevölkerungsdichte vornehmlich in den ländlichen Regionen führt unter anderem zu quantitativen und qualitativen Versorgungsengpässen in der Schul- und Hochschulbildung oder der medizinischen Versorgung. Eine stark alternde Gesellschaft hat zudem einen erhöhten Bedarf an medizinischer Versorgung, der mit zusätzlichen Kosten verbunden ist. Dies wird in der gegenwärtigen Corona-Pandemie besonders augenfällig, wegen der sich Transnistrien seit Monaten fast vollständig abschottet, um die Zahlen der Infizierten möglichst gering zu halten.

Junge qualifizierte Menschen fehlen nicht nur im medizinischen und Bildungsbereich, sondern auch in der Industrie. Während sich die Zahl verfügbarer Arbeitsplätze stark verringert hat, werden dennoch qualifizierte Arbeiter*innen benötigt. Gleichzeitig führen die außerordentlich niedrigen Löhne zu Abwanderung. Fast jede Familie hat Angehörige, die in Moldau, Russland oder in einem EU-Land leben, um zu studieren oder zu arbeiten. Schließlich unterstützt Transnistrien die Abwanderung aktiv und verstärkt so das eigene Dilemma, gut qualifizierte junge Menschen in allen Bereichen zu benötigen, aber keine adäquaten Löhne anbieten zu können.

Im Zentrum Tiraspols findet sich eine Agentur, die Arbeit aller Art im Ausland offiziell vermittelt. Große Anzeigetafeln werben für Jobs im Ausland. Sie bedeuten Rückzahlungen, die das Überleben sichern und von denen viele Bewohner*innen und indirekt auch der Staat profitieren. 2012 schätzte die Zentralbank von Transnistrien Rücksendungen im Umfang von 200 Millionen US-Dollar, was ca. 18 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entsprach. Ungefähr 85 Prozent der Überweisungen kamen aus Russland. Es ist vorstellbar, dass sich diese Werte in den vergangenen Jahren nicht verringert, sondern eher erhöht haben.

Für die Gesellschaft, die zurückbleibt, bedeutet die Abwanderung eine Überalterung mit allen damit verbundenen Folgen. Weil die arbeits- und konsumfähigen Generationen schrumpfen, hat der De-facto-Staat erhöhte Aufwendungen für Renten und medizinische Leistungen bei sinkenden Steuereinnahmen. Die Schwäche des De-facto-Staats macht Menschen und Region noch stärker abhängig und damit beeinflussbar. Russland unterstützt Transnistrien und finanziert einen Teil der Renten. Auch die Unternehmensgruppe Sheriff spielt eine entscheidende Rolle. Sie gewährt Pensionär*innen und kinderreichen Familien Rabatte auf Grundnahrungsmitteln in ihren Supermärkten. Das sichert die wirtschaftliche Monopolstellung der Gruppe und stärkt ihren politischen Einfluss, was sich zuletzt bei den Parlamentswahlen im November 2020 deutlich gezeigt hat. Alle gewählten Kandidat*innen stehen in Verbindung mit der Partei ‚Erneuerung‘, die von Sheriff gegründet wurde und unterstützt wird. Somit baut die Gruppe ihre politische, gesellschaftliche und ökonomische Dominanz in der Region immer weiter aus.

Wie in einem Teufelskreis trägt das stetige Schrumpfen und die zunehmende Alterung der Bevölkerung dazu bei, dass die jüngeren Generationen weiter abwandern und sich externe und interne politische und sozioökonomische Abhängigkeiten verstärken, was sich schließlich auch auf die weitere Konfliktverhandlung auswirkt.


Dr. Andrei Crivenco ist Wirtschafts- und Sozialgeograph an der Transnistrischen Staatlichen Taras-Schewtschenko-Universität in Tiraspol.

Dr. Sabine von Löwis ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS und leitet den Forschungsschwerpunkt "Konfliktdynamiken und Grenzregionen".