ZOiS Spotlight 17/2018

Ukrainische Sprachpolitik als Sicherheitspolitik?

Von Gwendolyn Sasse 09.05.2018
Verkauf russisch- und ukrainischsprachiger Bücher in L’viv. Alamy

Das ukrainische Parlament erörtert gerade das Gesetz „Über die Sicherstellung der Funktion des Ukrainischen als Staatssprache“, das von einem als einsprachig definierten ukrainischen Staat ausgeht und darauf abzielt, die Ukrainischkenntnisse und den Gebrauch des Ukrainischen im öffentlichen Leben voranzutreiben. Im politischen Diskurs wird die ukrainische Sprache explizit mit der Sicherheit und der territorialen Integrität des ukrainischen Staates verknüpft. Diese Verknüpfung von Sprache und Sicherheitsfragen spiegelt zum Teil die Auswirkungen wider, die der anhaltende Krieg im Donbass auf die ukrainische Politik hat.

Der eingebrachte Gesetzentwurf, der aller Wahrscheinlichkeit nach auch angenommen werden wird, legt fest, dass alle Staatsbürger*innen der Ukraine des Ukrainischen mächtig, und dass Voraussetzung für eine Einstellung im Staatsapparat, im öffentlichen Dienst oder in den Bereichen Justiz, Bildung und dem Gesundheitswesen ausreichende Ukrainischkenntnisse sein sollen. Der Gebrauch der Sprache im privaten und religiösen Bereich wäre von den Regelungen dieses Gesetzes ausgenommen, also dürften die unmittelbaren Folgen für den Alltag begrenzt sein (einmal abgesehen von einer Zunahme ukrainischsprachiger Medieninhalte). Allerdings wird die Sprachenpolitik, von der die aktuelle Gesetzesinititative nur ein Teil ist, insgesamt langfristige Auswirkungen haben. Das Bildungsgesetz, das im September 2017 in Kraft trat, ist ebenfalls ein Bestandteil dieser Politik. Es legt fest, dass es im Grundschulbereich zwar Raum für die Sprachen der Minderheiten gibt, der Unterricht im Sekundarbereich jedoch auf Ukrainisch zu erfolgen hat.

„Alltags-Zweisprachigkeit“

Beim Zensus von 2001 haben 67,5 Prozent der Bevölkerung Ukrainisch als ihre Muttersprache angegeben – eine symbolische Kategorie, die nicht mit dem tatsächlichen Sprachgebrauch gleichzusetzen ist. Umfrageergebnissen des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS) zufolge, die aus den Jahren 2012 bis 2017 stammen (und bei denen zum Zwecke der Vergleichbarkeit die Krim und der nicht von der Zentralregierung kontrollierte Teil des Donbass ausgenommen wurden, weil hier die Daten für die letzten Jahre fehlen), gaben 2012 rund 32 Prozent der Befragten an, dass sie im Alltag überwiegend oder ausschließlich Russisch sprechen. Bis 2017 ist dieser Wert auf knapp unter 27 Prozent gefallen (vor allem aufgrund des erheblichen Rückgangs derjenigen, die ausschließlich Russisch sprechen). Diese Zahlen deuten auf einen von unten erfolgenden Prozess einer „Entrussifizierung“ hin. Die Umfragen lassen darüber hinaus eine weitverbreitete Zweisprachigkeit erkennen: Von 2012 bis 2017 ist der Anteil derjenigen, die angaben, gleichermaßen ukrainisch und russisch zu sprechen, von 16 auf 24 Prozent angestiegen; begleitet von einem leichten Anstieg jener, die „überwiegend ukrainisch“ (von 12 auf 13 %) oder „überwiegend russisch“ sprechen (von 11 auf 13 %). Somit beschrieb 2017 rund die Hälfte der Befragten eine bilinguale Sprachpraxis im Alltag.

Die weitverbreitete „Alltags-Zweisprachigkeit“ in der Ukraine, vor allem im Südosten des Landes, ist ein Umstand, den außenstehende Beobachter*innen gewöhnlich außer Acht lassen. Einerseits lässt eine solche Zweisprachigkeit im Alltag das Thema Sprache weniger konfliktträchtig werden, als das der politische Diskurs mitunter nahelegt. Andererseits kann Zweisprachigkeit allerdings unterschiedliche Formen und Dimensionen annehmen, und die Anreize zum aktiven Gebrauch des Ukrainischen können begrenzt sein, wie das Leben in der Hauptstadt Kiew beispielhaft zeigt.

Präsident Viktor Janukowytsch hatte in 13 Regionen des Landes, in denen mindestens 10 Prozent Angehörige sprachlicher Minderheiten leben, den Status einer „regionalen Sprache“ eingeführt (unter den auch das Russische fällt). Wie heikel dieses Thema ist, illustriert der Umstand, dass die Aufhebung des Gesetzes im Frühjahr 2014, nach Janukowytschs Amtsenthebung, zunächst vom seinerzeit geschäftsführenden Präsidenten Olexander Turtschynow und anschließend von Präsident Poroschenko wieder ausgesetzt wurde. Das Gesetz wurde erst im Februar 2018 aufgrund von Verfahrensfehlern vom Verfassungsgericht verworfen.

Identitätskonzepte im Wandel

„Identität“ ist ein in der Sozialwissenschaft und im öffentlichen Diskurs häufig verwendeter Begriff, der sich empirisch jedoch nur schwer fassen lässt. Krisensituationen erlauben Einblicke in Identitäten und ihre potentiellen Verschiebungen. [1] Doch was genau meinen in solchen Momenten Befragte und Wissenschaftler*innen, wenn sie von „ethnischer Identität“, „Nationalität“ oder „Muttersprache“ sprechen? Diese Begriffe entziehen sich präziser Definitionen, und ihre Bedeutung wandelt sich über die Zeit sowohl in der Wahrnehmung der Menschen als auch im offiziellen Gebrauch. Umfragenbasierte Forschung muss diese Realität reflektieren, beispielsweise durch eine Kombination aus offenen und geschlossenen Fragen und eine Diskussion über die Bedeutung der Umfragekategorien in unterschiedlichen linguistischen und politischen Kontexten.

Jüngste Umfragen zeigen, dass durch die Erfahrung der Proteste und den Krieg eine „ukrainische Identität“, eine Identifizierung mit der Ukraine als „Heimatland“, und ein „Bewusstsein, Staatsbürger*innen der Ukraine zu sein“ bewahrt und gestärkt wurden.[2] Entgegen den Befürchtungen des Staates untergräbt Zweisprachigkeit nicht die Vorstellungen von einer ukrainischen Identität oder der ukrainischen Staatsbürgerschaft als Ausdruck der Teilhabe am Gemeinwesen. Wenn es eine Veränderung gegeben hat, so zeigt diese in Richtung einer bewussteren Assoziierung von Zweisprachigkeit mit ukrainischer Staatsbürgerschaft.

Meine Umfragen unter den am unmittelbarsten vom Krieg Betroffenen – Personen in den von Kiew kontrollierten Gebieten, wie auch im nicht unter Regierungskontrolle stehenden Donbass sowie Binnenflüchtlinge in der Ukraine und jene, die nach Russland geflohen sind – zeigen, dass Sprache (vor allem die Kategorie „Muttersprache“, mitunter auch der Sprachgebrauch zu Hause) von Bedeutung ist, wenn es die Wahrscheinlichkeit einer gemischten (ukrainisch-russischen) bzw. einer staatsbürgerlichen Identität zu erklären gilt. Interessanterweise ist es nicht nur eine Muttersprache – das Ukrainische –, die hier als wichtigster Faktor hervortritt. Auch eine von den Befragten selbst konstatierte duale Muttersprache (Ukrainisch und Russisch) hat einen ähnlichen Effekt, insbesondere auf die von den Befragten beschriebenen Identitätsverschiebungen, denen zufolge sie sich „stärker ukrainisch“ oder „stärker als gemischt ukrainisch-russisch“ fühlen. Unsere Daten zeigen, dass bei allen vier erfassten Untergruppen des ehemaligen Donbass-Gebiets die Wahrnehmung, sich „stärker ukrainisch“ zu fühlen, und – im Falle der Bevölkerung in dem von Kiew kontrollierten Teil des Donbass –, sich stärker als Staatsbürger*innen zu fühlen, explizit ein- und zweisprachige Identitäten umfasst.

Das gegenwärtige politische Klima in der Ukraine lässt nicht viel Raum für eine Diskussion über Zweisprachigkeit als positives und stabilisierendes Element in einem von Vielfalt geprägten Staat. Selbst wenn es das politische Ziel ist, den Gebrauch des Ukrainischen im öffentlichen Leben auszuweiten, sollte das Bekenntnis zum ukrainischen Staat nicht darauf reduziert werden, sich nur mit dem Ukrainischen zu identifizieren oder ausschließlich ukrainisch zu sprechen.


Prof. Dr. Gwendolyn Sasse ist die wissenschaftliche Direktorin des ZOiS.


[1]Zu einer eingehenderen Diskussion der Möglichkeiten und Herausforderungen bei dieser Art Forschung siehe die Sonderausgabe von Post-Soviet Affairs, Vol. 34, No. 2-3 on ‘Identity Politics in Times of Crisis: Ukraine as a critical case” (hrsg. von Olga Onuch, Henry Hale und Gwendolyn Sasse) (frei zugänglich bis zum 31. Mai 2018) und dort besonders den Artikel von Henry Hale und Olga Onuch.

[2] Ibid., siehe auch die Artikel von Grigore Pop-Eleches und Graeme Robertson, von Volodymyr Kulyk sowie von Gwendolyn Sasse und Alice Lackner.