Unerhört – Musik von Komponist*innen aus dem Gulag
Der 30. Oktober gilt in Russland als Gedenktag an die Opfer der politischen Repression. Damit sind an erster Stelle Menschen gemeint, die eine Lager- oder Gefängnishaft verbüßen mussten. In der Aufarbeitung der Geschichte sowjetischer Zwangsarbeitslager war eine Gruppe von Häftlingen bislang wenig sichtbar: die der Komponist*innen. Obwohl Musik im Gulag in Häftlingserinnerungen zur Sprache kommt und einige inhaftierte Interpret*innen wie Lidija Ruslanowa oder Wadim Kosin bekannt sind, blieb sie lange wenig beachtet. Nach der Perestroika sind zahlreiche Veröffentlichungen erschienen, die das Schicksal einzelner Künstler*innen oder das Thema Theater im Gulag behandeln, doch bis heute bleiben viele repressierte Komponist*innen unerhört. Meine Gesprächspartner*innen in Russland assoziierten oftmals blatnyje-Lieder, die vorrangig von Kriminellen im Gulag tradiert wurden, mit Musik im Gulag, wohingegen der Bereich der klassischen Musik landläufig wenig bekannt ist.
Musizieren im Lager
Für die Inhaftierung der Komponist*innen gab es nur selten spezifische Gründe, die meisten fielen in derselben Weise dem Terrorapparat zum Opfer wie andere unschuldige Häftlinge. Musik ist im Gulag in unterschiedlichen Kontexten erklungen, die zum einen der offiziell verordneten Musikausübung und zum anderen dem selbstbestimmten Musizieren zugeordnet werden können. Der Lagerapparat trieb erheblichen Aufwand zur Intensivierung der befohlenen Musikarbeit. Das nach außen hin propagierte Ziel war die Umerziehung der Häftlinge, eigentlich erhoffte man sich davon aber eine Steigerung der Arbeitsproduktivität sowie mehr Disziplin. Die offiziell verordnete Musikausübung war Teil der so genannten Kulturerziehungsarbeit, die je nach Lager unterschiedlich gut aufgestellt war. In zahlreichen Lagern existierten Musikkapellen, die oftmals beim Ausrücken der Häftlinge zu den Arbeitsstätten und während der Arbeit aufspielen mussten. Auch ganze Symphonieorchester, Chöre und sogar Operntheater, die Konzerte, Operetten- und Opernvorführungen sowohl für das Lagerpersonal und andere Häftlinge als auch für die zivile Bevölkerung der naheliegenden Ortschaften gaben, waren keine Seltenheit. Hier konnten Komponist*innen, wenn sie Glück hatten, unterkommen und sich trotz der menschenunwürdigen Lebensbedingungen weiter der Musik widmen. Einigen Komponist*innen gelang die Weiterführung ihrer schöpferischen Arbeit, obwohl sie nicht in die Musikarbeit eingebunden waren. Abseits der verordneten Musik spielte selbstbestimmter Gesang sowie selbstbestimmtes Musizieren, die oftmals insgeheim ausgeübt wurden, eine wichtige Rolle. Sie bildeten ein existenzielles Bedürfnis für eine Reihe von Häftlingen und konnten ihnen helfen, schwierige Situationen im Alltag besser zu ertragen.
Ewgeni Epstein, der zu Beginn der 1990er-Jahre mehrere Artikel über ehemalige Gulag-Häftlinge für die Zeitschrift Musykalnaja schisn (Das Musikleben) verfasste, schrieb in einem dieser Artikel, bei der Verhaftung der ersten Ehefrau Sergei Prokofjews, Lina Prokofjewa, seien zahlreiche Musikhandschriften beschlagnahmt worden, worüber eine Liste im Archiv des Glinka-Museums in Moskau Auskunft gebe. Leider haben weder Musiker*innen noch Musikwissenschaftler*innen die Chance ergriffen, während der Perestroika die KGB-Archive zu befragen und Musikhandschriften herauszuholen, wie Witali Schentalinski dies als Vorsitzender der Kommission für das schöpferische Erbe repressierter Schriftsteller*innen Russlands getan hat. Ihm ist es zu verdanken, dass die letzten Monate und Tage einer Reihe von Schriftsteller*innen anhand ihrer Untersuchungsakten rekonstruiert sowie ihre unbekannten Manuskripte ans Licht befördert werden konnten.
Konzerte mit Bezug auf den Gulag
Trotz dieser Unterlassung gäbe es genug Musikhandschriften und gedruckte Noten ehemaliger Gulag-Häftlinge, die auf ihre Aufführung warten. Wegweisend in diesem Zusammenhang war das Projekt Repressirowannaja musyka (Repressierte Musik), das junge russische Musiker*innen im Jahr 2001 in Moskau realisiert haben. Sie kombinierten Musik der ehemaligen Gulag-Häftlinge Wsewolod Saderazki, Alexander Mossolow, Alexander Weprik und von Mieczysław Weinberg, der zwar nicht im Gulag war, aber eine Untersuchungshaft zu erleiden hatte, mit Musik von vier Komponisten aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern, Pavel Haas, Gideon Klein, Viktor Ullmann und Erwin Schulhoff.
Ähnliche Konzerte, die allerdings ausschließlich Musik von Gulag-Häftlingen umfassten, fanden während des Symposiums Composers in the Gulag under Stalin im Juni 2010 in Göttingen und im Oktober 2011 unter der Ägide des Lew Kopelew Forums im Domforum Köln statt. Beim letztgenannten erklang auch Musik von Frauen – Lieder von Swetlana Schilowa und Musik für Kinder der professionellen Komponistin Taissija Schutenko. Musik von Opfern des Gulag (Alexander Weprik und Wsewolod Saderazki) und des Nationalsozialismus (Gideon Klein und Jakob Schönberg) kombinierte der Pianist und Musikwissenschaftler Jascha Nemtsov in seiner Antrittsvorlesung samt Konzert Musik als geistiger Widerstand im Dezember 2013 an der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar. Jascha Nemtsov hat 2017 eine sehr hörenswerte CD-Box mit Klavierwerken Wsewolod Saderazkis vorgelegt. Musikalisch besonders bemerkenswert ist darauf der Zyklus von 24 Präludien und Fugen, welchen Saderazki von 1937 bis 1939 in einem abgelegenen sibirischen Lager komponierte, in dem es keine Musikarbeit gab. Angeregt durch die Stiftung Lichterfeld wurde Musik von Komponisten aus dem Gulag, darunter mindestens vier Erstaufführungen, am 25. Oktober 2018 im Anneliese Brost Musikforum in Bochum zur Aufführung gebracht. Einen etwas anderen Ansatz verfolgte ein im März 2008 im Alexander Solschenizyn-Haus in Moskau stattgefundenes Konzert, das maßgeblich der Schriftsteller und ehemalige Gulag-Häftling Semjon Wilenski organisierte. Dieses kombinierte Opern- und Operettenarien, die in Konzerten im Gulag erklungen sind, mit Musik von im Gulag inhaftierten Komponist*innen.
Viele Entdeckungen warten
Zwar sind solche thematisch explizit auf den Gulag Bezug nehmende Konzerte sehr selten, jedoch wird Musik von Komponisten aus dem Gulag auch in anderen Zusammenhängen aufgeführt. Dies trifft insbesondere auf Komponisten zu, deren Schaffen vor ihrer Haft bereits bekannt war wie Alexander Mossolow oder Sergei Protopopow. Klaviermusik beider Komponisten ist auf dem sehr gelungenen CD-Schuber Klavierwerke um den Russischen Futurismus in der Interpretation von Thomas Günther zu hören. Doch auch bei solchen Komponisten gibt es noch viel zu entdecken und aus Archiven hervorzuholen, wie die Rezeption des Schaffens von Alexander Weprik beispielhaft zeigt. Seinen Namen und seine Kammermusik entdeckte Jascha Nemtsov in den 1990er Jahren durch zahlreiche Konzerte, Artikel- und Buchveröffentlichungen sowie CD-Einspielungen für das Musikleben wieder. So gut wie vergessen war aber bis zum Jahre 2017 seine symphonische Musik, weil zu nur zweien seiner Orchesterwerke Aufführungsmaterial verfügbar ist, andere Werke aber nur in schwer zu beschaffenden Partituren existieren. Dem Göttinger Symphonie Orchester unter seinem damaligen Generalmusikdirektor Christoph-Mathias Mueller ist es zu verdanken, dass im September 2017 in Göttingen ein Konzert stattfand, das vollständig aus symphonischen Werken Wepriks zusammengestellt war. Der Rezensent schrieb über jenen bewegenden Abend: „Spannenderweise erinnert man sich als Hörer nur selten an Bekanntes. […] von Anfang an vernimmt man einen ganz eigenständigen musikalischen Ton, eine ‚Stimmfärbung‘, die es anderswo nicht gibt.“
Die genannten Projekte sind hoffentlich nur der Beginn einer (Wieder-)Entdeckung von Komponist*innen, die durch ihre Haft im Gulag zu Unrecht in Vergessenheit geraten sind. Ganz mit den Worten des russischen Cellisten Mstislaw Rostropowitsch gesprochen: „Unsere Geschichte wurde so lange, so beharrlich und so unbarmherzig falsifiziert, dass die Anstrengung von mehreren Tausend Menschen nötig sein wird, um die Wahrheit wiederherzustellen.“ Ich möchte hinzufügen: „… und der vergessenen Musik zum Eingang ins Konzertleben zu verhelfen.“
Die Musikwissenschaftlerin Inna Klause hat 2012 an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover zum Thema „Musik und Musiker in sowjetischen Zwangsarbeitslagern der 1920er- bis 1950er-Jahre“ promoviert. Aktuell ist sie Dramaturgin und Leiterin der Notenbibliothek am Göttinger Symphonie Orchester und arbeitet im Rahmen eines Postdoc-Stipendiums an der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar am Vergleich der Musikausübung im Gulag und den nationalsozialistischen Konzentrationslagern.