Ungeliebte sowjetische Reformer, ersehnte russische Stabilität
Es war am 25. Februar 1956, dem vorletzten Tag des XX. Parteitags der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU). Bereits elf Tage waren vergangen, das Publikum hatte den Rechenschaftsberichten und anderen Beiträgen der Parteiführung gelauscht. Eine Besonderheit war der Parteitag schon seit seinem Beginn, war es doch der erste nach Stalins Tod. Nun stand ein letzter Vortrag des Generalsekretärs der Partei, Nikita Chruschtschow, auf der Tagesordnung. In einer nicht-öffentlichen Sitzung vor 1.436 Mitgliedern der Partei sowie einigen Hundert internationalen Gästen anderer kommunistischen Parteien sprach er über Stalins Verbrechen − über die Parteisäuberungen, über die massiven Fehler als oberster Kriegsherr und über seine despotische Art zu regieren. Das Manuskript der Rede wurde anschließend nicht wie üblich in der Pravda veröffentlicht, auch in den Protokollen zum Parteitag taucht lediglich der Titel des Vortrags auf ("Über den Personenkult und seine Folgen").[1]
Doch bereits fünf Tage nach dem Parteitag beschloss Chruschtschow, dass alle Parteimitglieder, bis hinunter zur kleinsten Parteizelle, den Text der Rede lesen und darüber reden sollten − sie blieb mitnichten "geheim". Über zehn Millionen Parteimitglieder kannten also den Text, diskutierten über seine Bedeutung und waren Multiplikator*innen für weite Teile der Gesellschaft. Das führte zu Reaktionen, die von der kollektiven Führung im Kreml nicht gewollt waren. Im ganzen Land wurde der Personenkult Stalins diskutiert, und die Berichte an das Politbüro zeigen, wie die Menschen zu Recht erkannten, dass das System selbst den Stalinismus hervorgebracht hatte. Während in der Sowjetunion die Protesthandlungen lokal beschränkt blieben, führten sie im Sommer im polnischen Poznań zu Unruhen, die auf den Rest der Volksrepublik übergriffen und gewaltsam von der polnischen Armee niedergeschlagen wurden. Im Herbst 1956 schließlich formierte sich der Widerstand in Budapest und Ungarn − erst der Einmarsch sowjetischer Truppen setzte ihm ein Ende.
Erinnerung an die ungeliebten Reformer
Nichts von dem war intendiert. Chruschtschow wusste, dass in allen Bereichen des Staates Reformen nötig waren. In seine Amtszeit fallen viele Vorstöße mit immer neuen Ideen, sei es für die Landwirtschaft, den Industriesektor oder in parteipolitischen Fragen. Nachhaltig war indes kaum einer der Ansätze und nicht zuletzt darüber stürzte er 1964. Fünfundzwanzig Jahre später erging es Michail Gorbatschow ähnlich. Auch er hatte erkannt, dass die Sowjetunion nicht im Status quo verharren konnte. Dazu war die wirtschaftliche Lage zu desolat, der Parteiapparat zu schwerfällig und der internationale Druck bald zu groß. Am Ende seines Programms war der zu reformierende Staat verschwunden. Die Sowjetunion aufzulösen lag Gorbatschow mehr als fern. Er glaubte an den Sozialismus und seine grundsätzliche Überlegenheit als System ebenso sehr wie Chruschtschow. Beide waren überzeugt, dass es eben nur die richtigen Reformen bräuchte, neue und mutige Ansätze, um den Kurs zu korrigieren, und jungen Nachwuchs, der nicht durch die bleierne Schwere der Nomenklatura gelähmt war. Beide scheiterten am Ende.
Das mag ein maßgeblicher Grund dafür sein, dass man sich beider Personen heute in Russland nicht besonders gut und gern erinnert. Sie werden als diejenigen angesehen, die in einem vermeintlichen Vabanquespiel die große Nation aufs Spiel gesetzt hätten. Die Erinnerung an die von Chruschtschow zumindest mitgestaltete Periode des "Tauwetters" wird überstrahlt von der Erinnerung an Stabilität, Versorgungssicherheit und relativem Wohlstand unter seinem Nachfolger Leonid Breschnew. Chruschtschow hingegen wird im kollektiven Gedächtnis der Platz des bäuerlichen Tölpels, der die Welt an den Abgrund eines Atomkriegs brachte, zugedacht. In jüngster Zeit gesellt sich noch die schmerzhafte Erinnerung an die fahrlässige Schenkung der Krim an die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik hinzu. Und Gorbatschow? Er brachte den Zusammenbruch der Sowjetunion, der nach Meinung gut der Hälfte der russischen Bevölkerung hätte vermieden werden können.
Stabilität und soziale Sicherheit
Auf den Zusammenbruch der politischen Union folgten die harten Jahre des wirtschaftlichen Zerfalls, in einigen Republiken kam es zum Bürgerkrieg. Zum Wegfall jedweder sozialer Sicherheit kam der Schmerz über den internationalen Bedeutungsverlust. Von einem Ende der Geschichte, das den damaligen Diskurs im Westen bestimmte, konnte hier nicht die Rede sein. Es ist diese besondere Gemengelage aus Niedergang, Verlust kollektiver Identität und sozialer Unsicherheit, die den Aufstieg von Wladimir Putin begünstigte. Ähnlich wie Breschnew konnte er sich auf ein Netzwerk von Patronage und Klientel berufen; die verhasste Oligarchie vorgeblich bekämpfend, kreierte er neue Oligarch*innen. Dennoch bleibt Putin unangefochten auf Platz eins der beliebtesten Führungspersönlichkeiten der jüngeren russländischen Geschichte, gefolgt von Breschnew, Stalin und Lenin. Am Ende der Rangliste finden sich Chruschtschow, Gorbatschow und Jelzin (Februar 2017). Das liegt keineswegs am viel beschworenen Typus des "starken Führers", sondern schlicht daran, dass Putin (ähnlich wie Breschnew) für Stabilität und Ordnung steht, für Werte, die bei der Mehrheit in der Gunst deutlich vor klassisch westlichen Konzepten von Demokratie und Liberalität liegen. Dabei spielt weniger eine Rolle, ob diese Werte im Alltag wirklich Anwendung finden, sondern vielmehr, dass auf politisch willentlich herbeigeführte, einschneidende Veränderungen am Gesellschaftsvertrag verzichtet wird. Für einen Großteil der Bevölkerung scheint der Bedarf an abenteuerlichen Reformen und wegweisenden Programmen gedeckt. Und auch die Verbrechen der Stalinzeit, über die Chruschtschow in Ansätzen sprach (ohne freilich auf seine eigene Beteiligung einzugehen), werden bislang von über 70 Prozent der Bevölkerung als notwendiges Übel verstanden und von 26 Prozent als gerechtfertigt angesehen. Der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg und Stalins massiv fehlinterpretierte Rolle dabei überstrahlt weiter jeden Schatten der Vergangenheit.
[1] XX s''ezd kommunističeskoj partii Sovetskogo Sojuza, 14-25 fevralja 1956 goda. Stenografičeskij otčet. Tom II, Moskva 1956, S. 498.
Jochen Krüger promoviert am Lehrstuhl für osteuropäische Geschichte der Humboldt-Universität zu Berlin und ist zurzeit wissenschaftlicher Volontär in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen.