ZOiS Spotlight 11/2021

Ungewisse Zukunft der kooperativen Sicherheit in Europa

Von Nadja Douglas 24.03.2021
IMAGO / Erik Romanenko/ ITAR TASS

Im Jahr 2021 jährt sich nicht nur der Zusammenbruch der Sowjetunion und damit das Ende der Teilung Europas zum 30. Mal, sondern ebenfalls der Beginn einer neuen Ära der kooperativen Sicherheit und Rüstungskontrolle in Europa. Zwischen 1990 und 1992 traten drei grundlegende Vereinbarungen in Kraft, die eine stärkere Rüstungskontrolle und mehr militärische Transparenz zum Ziel hatten: der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa, das Wiener Dokument über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen und der Open-Skies-Vertrag, der unbewaffnete Beobachtungsflüge über den Territorien der Unterzeichnerstaaten erlaubte.

Ein Großteil dieser vertraglichen Infrastruktur ist mittlerweile entweder aufgrund technologischer und militärischer Fortschritte veraltet oder durch den Rückzug zentraler Akteure obsolet geworden. Dieses Schicksal traf zuletzt auch den Open-Skies-Vertrag. Im November 2020 stiegen die USA formal aus ihm aus. Russland verkündete zwei Monate später, ebenfalls auszutreten, womit der Vertrag de facto an Bedeutung verloren hat. Hinsichtlich der Kernprinzipien der kooperativen Sicherheit in Europa ist dadurch ein Vakuum entstanden.

Der New-START-Vertrag (New Strategic Arms Reduction Treaty) stellt die letzte verbliebene Säule der nuklearen Rüstungskontrolle dar. Er schreibt eine Reduktion strategischer Nuklearwaffen und Trägersysteme vor. Am 3. Februar 2021 wurde der Vertrag von den USA und Russland in letzter Minute noch einmal verlängert – zwei Tage, bevor er offiziell ausgelaufen wäre. Nachdem die USA 2019 den INF-Vertrag (Intermediate-Range Nuclear Forces Treaty) und 2002 den ABM-Vertrag (Anti-Ballistic Missile Treaty) unilateral aufgekündigt hatten, wurde die Verlängerung von New START in weiten Kreisen als positives Signal wahrgenommen.

Konventionelle und nukleare Rüstungskontrolle: zwei Seiten einer Medaille

Anstelle einer aktiven Politik hinsichtlich Abrüstung und Rüstungskontrolle, scheint militärische Abschreckung heute wieder die Strategie der Wahl zu sein. Taktische und strategische Waffenbestände werden auf den neuesten Stand gebracht und ein neues Wettrüsten ist wieder in vollem Gange.

Die Rüstungskontrolle steckt in einer doppelten Krise sowohl im Bereich der russisch-amerikanischen nuklearen Kontrolle als auch der konventionellen Rüstungskontrolle. Diese Krise zeigt vor allem, dass die vormalig deutliche Differenzierung zwischen nuklearen und konventionellen Waffensystemen der heutigen Realität nicht mehr entspricht. Mittlerweile können dieselben Trägersysteme für konventionelle und nukleare Sprengköpfe eingesetzt werden. Konventionelle Präzisionswaffen haben zudem das Potenzial, heutzutage eine ähnliche Bedrohung der strategischen Stabilität darzustellen wie Nuklearwaffen. Deshalb sollten Probleme der konventionellen und nuklearen Rüstungskontrolle gemeinsam adressiert werden.

Ein Blick auf aktuelle Rüstungskontrollverträge wie etwa New START macht deutlich, dass neuere, ähnlich destabilisierende Waffentechnologien bisher keinerlei vertraglichen Einschränkungen oder Regulationen unterliegen. Zu diesen neuen Technologien gehören Nuklearwaffen mit kurzer Reichweite und substrategische Trägersysteme. Sie machen etwa 60 Prozent aller aktiven Nuklearwaffenbestände aus. Ähnliche Beispiele finden sich im Bereich der konventionellen Rüstungskontrolle. Zudem wird vermehrt diskutiert, wie sich die militärischen Kapazitäten anderer Großmächte wie China auf die strategische Stabilität auswirken.

Die Vorteile von Inspektionen und Verifikationsmaßnahmen

Gegenseitige Inspektionen und Verifikationsmaßnahmen waren einst zentrale Bestandteile der meisten Rüstungskontrollverträge. Zwischen den USA und Russland finden sie allerdings in den letzten Jahren größtenteils nicht mehr statt oder werden nur noch sporadisch durchgeführt. Zu ihnen zurückzukehren würde nicht ausreichen, um vollständig sicherzustellen, dass sich beide Seiten an die bestehenden Vereinbarungen halten. Allerdings sind sie ein wesentliches Mittel, um gegenseitiges Vertrauen zu schaffen. New START schreibt einen regelmäßigen Informationsaustausch, Verifikation mittels Satelliten und auf beiden Seiten jeweils achtzehn Vor-Ort-Inspektionen pro Jahr vor.

Da die Ansichten offensichtlich weit auseinandergehen, besteht Diskussionsbedarf. Informelle Gespräche im Rahmen des „Strukturierten Dialogs“ der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa sollen eine Möglichkeit bieten, vor allem im Hinblick auf veränderte militärische Fähigkeiten und Waffenkategorien, über Obergrenzen für neue konventionelle Waffensysteme, Transparenzmaßnahmen und Quoten für eine effektivere Beobachtung und Verifikation zu diskutieren.

Implikationen für die europäische Sicherheit

Am 22. Januar 2021 trat der Atomwaffenverbotsvertrag in Kraft. Seitdem wurde wieder verstärkt hinterfragt, ob es geboten sei, gleichzeitig auf Rüstungskontrolle und militärische Abschreckung zu setzen. Dass der Vertrag notwendig ist, zeigt die Zahl der weltweit noch immer vorhandenen Nuklearwaffen. Alle Atommächte der Welt verfügen zusammengerechnet über 13.500 nukleare Sprengköpfe. Ihre Zahl ist in den vergangenen Jahrzehnten zwar insgesamt zurückgegangen, stagniert jedoch in letzter Zeit wieder.

Nachdem New START erstaunlich schnell verlängert wurde, signalisierten sowohl die USA als auch Russland ihr Interesse, über weitere Möglichkeiten der nuklearen Rüstungskontrolle zu verhandeln. Washington möchte Russlands riesiges Arsenal an nichtstrategischen Nuklearwaffen begrenzen, während die russische Regierung ihrerseits eine Beschränkung der US-amerikanischen Vorräte an nichtnuklearen strategischen Waffen und Raketenabwehrsystemen anstrebt. Russlands stellvertretender Außenminister Sergej Rjabkow, der für die russische Seite die Rüstungskontrollverhandlungen führt, gab am 27. Januar bekannt, dass Moskau bei zukünftigen Abrüstungsgesprächen sowohl nukleare als auch nichtnukleare strategische Waffen auf die Agenda setzen möchte. Expert*innen haben allerdings Zweifel daran geäußert, dass es in nächster Zeit zu Verhandlungen über einen Nachfolgevertrag zu New START kommen wird.

Die amerikanisch-russischen Beziehungen haben sich seit der Wahl Joe Bidens zum US-Präsidenten nicht über Nacht verändert. Weder von der neuen US-Regierung noch vom Kreml wird ein freundlicherer Umgang miteinander zu erwarten sein. Im Gegenteil ist damit zu rechnen, dass der Tonfall in Zukunft rauer werden wird – vor allem angesichts Bidens scharfer Kritik an Präsident Wladimir Putin, die er in einem Fernsehinterview äußerte. Trotzdem besteht Grund zur Hoffnung auf einen besser vorsehbareren, weniger erratischen Kurs als in den letzten vier Jahren. Die Sicherheitslage in Europa wird jedoch auf absehbare Zeit weiterhin stark davon abhängen, in welche Richtung sich die amerikanisch-russischen Beziehungen im Bereich der Rüstungskontrolle entwickeln werden.


Nadja Douglas ist Politikwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS.