Von wegen neuer Kalter Krieg
Denkfaulheit ist offenbar ansteckend. Bei buchstäblich jeder Kontroverse, in der es um Russland oder China geht, wird das Skelett namens Kalter Krieg aus der Rumpelkammer gezogen. Alle schreiben voneinander ab und gehen von der unausgesprochenen, aber deutlichen Erwartung aus, dass es nur eine plausible Antwort auf die Frage nach der Wiederkehr der Vergangenheit geben kann – ein von tiefer Sorge getragenes „Ja“. Womit der Sinn jeden Fragens bereits ad absurdum geführt ist. Ebenso reflexhaft werden die Schuldanteile taxiert und nach alter Sitte geographisch verortet: Kältekammern im Osten sind für den politischen Klimasturz verantwortlich. Und schon ist die Welt wieder übersichtlich sortiert, es gibt Gute und Böse, ein drinnen und draußen oder ein „wir“ gegen „sie“.
Eine selbstgewählte Amnesie
Wie rigoros das historische Kurzzeitgedächtnis ausgeschaltet werden kann, ist deprimierend. Dass in der Vergangenheit zwei verfeindete Lager noch im hintersten Winkel der Erde um ihren ideologischen Alleinvertretungsanspruch kämpften und der fixen Idee anhingen, das eigene Überleben hinge von der Kapitulation der Gegenseite ab? Dass zwei Blöcke vier Jahrzehnte lang aufrüsteten, als müssten sie einen neuen Weltkrieg aus dem Stand führen können und bei mehreren Gelegenheiten tatsächlich in unverantwortlicher Weise ihre Instrumente zeigten? Dass der „kalte Frieden“ auf der nördlichen Halbkugel mit heißen Kriegen im globalen Süden erkauft wurden, in denen über 20 Millionen Menschen ihr Leben ließen? Scheinbar nie gehört, gesehen oder gelesen.
Allein anhand dieser Beispiele ist die Fallhöhe zu heutigen Konflikten mühelos zu erkennen. Was immer aktuell ausgetragen wird und wo auch immer es sich abspielt – es geht um regionale Streitereien und nicht um einen globalen Kampf um das Ganze, statt festgefügter Bündnisse stehen sich wie in Syrien fluide Koalitionen der Willigen gegenüber, keiner der seit 1990 geführten Kriege reicht an das Blutvergießen in Korea oder Vietnam heran. Und die Waffenkammern von heute werden mehr und mehr für Szenarien bestückt, die zur Zeit des klassischen Kalten Krieges allenfalls in Science-Fiction-Filmen zu besichtigen waren: Cyber-Kriege, Roboterschlachten, Feldherrn mit künstlicher Intelligenz. Kurzum, es bleibt dabei, dass nichts bleibt, wie es einmal war und dass jede Zeit ihre eigenen Antworten verlangt
Was vom Kalten Krieg zu lernen wäre
Die Pointe der Geschichte weist indes in eine ganz andere Richtung: Man kann eine Debatte über den Kalten Krieg tatsächlich so führen, dass sie Erhellendes für die Gegenwart abwirft. Dazu ist allerdings ein Perspektivenwechsel erforderlich. Nicht Konfrontationen, Krisen und Eskalationen sollten die Bezugspunkte sein. Produktiv ist nicht das Schauerliche, sondern die Frage, wie im Kalten Krieg Streit gedämpft wurde. Genauer: Welche Konzepte zur Moderation von Konflikten erdacht und umgesetzt wurden, wie man Gräben überbrücken und Mauern durchlässig machen konnte, wie Erstarrtes verflüssigt wurde. Nicht trotz, sondern wegen des Kalten Krieges waren seit den späten 1960er Jahren eine Fülle einschlägiger Ideen in der Diskussion. Zum Schaden aller sind sie in Vergessenheit geraten.
Zeitgemäß und überfällig ist vor allem eine Wiederentdeckung der Entspannungspolitik. Sicherheit gemeinsam herstellen statt sie auf Kosten des anderen durchzusetzen, Konflikte im Dialog und mit diplomatischen Mitteln moderieren statt sie durch Rüstung anzuheizen, den Schwachen wirtschaftlich unter die Arme greifen, um politisch zu Friedenslösungen zu kommen: Als man in Ost und West über diese Eckpunkte eines neuen Denkens zu reden begann, war die internationale Lage ähnlich verfahren wie heute. Sowjetische Panzer standen in Prag, die USA wüteten in Vietnam, China und die UdSSR hetzten an ihrer Grenze Soldaten aufeinander. Der Kurswechsel gelang dennoch – wider Erwarten und in erster Linie, weil sich die Protagonisten, vorweg Willy Brandt, nicht zu Gefangenen negativer Erfahrungen machen ließen.
Gewiss: Jede Zeit braucht ihre eigenen Antworten. Und deshalb ist eine neuerliche Besichtigung der Entspannungspolitik keine nostalgische Anwandlung. Andererseits gibt es Erfahrungen, die ihre Zeit überdauern und in unterschiedlichen Konstellationen von Nutzen sein können – vorweg die Art und Weise, wie zur Zeit des Kalten Krieges politisches Vertrauen aufgebaut wurde. Man denke nur an die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) und deren Nachfolgekonferenzen. Weil die Mehrheit der Beteiligten an dem Grundsatz „Frieden durch Kommunikation“ festhielten und auf allen Ebenen intensive Kontakte pflegten, konnte die neuerliche Zuspitzung des Kalten Krieges in den frühen 1980er Jahre im Zaum gehalten werden – trotz der sowjetischen Invasion in Afghanistan, trotz des Kriegsrechts in Polen und trotz forcierter Aufrüstung. Ohne diese diplomatische Kärrnerarbeit wäre es 1987 nicht gelungen, mit dem INF-Vertrag erstmals eine ganze Generation von Nuklearwaffen – die in Europa stationierten Mittelstreckenraketen – zu verschrotten.[1] Und mit gutem Grund ist davon auszugehen, dass dieses in Ost und West akkumulierte Vertrauenskapital eine entscheidende Voraussetzung für das unblutige Ende des Kalten Krieges war.
In diesem Sinne ist erneut politische Phantasie gefragt: Was bedeutet „gemeinsame Sicherheit“ heute? Wie können die legitimen Interessen der „Großen“ mit den Sicherheitsbedürfnissen der „Kleinen“ in Einklang gebracht werden? Auf welchen Erfahrungen der Vergangenheit lässt sich aufbauen, welche politischen Instrumente greifen auch unter veränderten Bedingungen? Und welchen Beitrag kann eine engagierte Öffentlichkeit leisten?
Wer den Kalten Krieg auf diese Weise befragt, wird viel Überraschendes und Anregendes, aber nichts für Denkfaule finden.
Bernd Greiner ist Mitarbeiter am Berliner Kolleg Kalter Krieg / Berlin Center for Cold War Studies.
[1] Siehe dazu Agnes Bresselau von Bressensdorf, Frieden durch Kommunikation. Das System Genscher und die Entspannungspolitik im Zweiten Kalten Krieg 1979-1982/83, Berlin, Boston 2015; Martin Klimke, Reinhild Kreis, Christian Ostermann, Hg., Trust, but Verify. The Politics of Uncertainty and the Transformation of the Cold War Order, 1969-1991, Stanford University Press 2016.