Warum Manizhas Nominierung für den Eurovision Song Contest in Russland einen Nerv trifft
Manizha Sangins Teilnahme am Eurovision Song Contest 2021 (ESC) hat in Russland eine Debatte darüber ausgelöst, wie das Land bei dem Wettbewerb vertreten werden soll. Es ist die größte öffentliche Debatte dieser Art in der ESC-Geschichte Russlands. Dass eine Mehrheit der Zuschauer*innen für das Lied einer Independent-Künstlerin mit Migrationshintergrund stimmte, die darüber singt, was es bedeutet, eine russische Frau zu sein, kam für viele überraschend. Bereits am Tag darauf wurden die sozialen Netzwerke mit fremdenfeindlichen Kommentaren geflutet, die eine gebürtige Tadschikin für ungeeignet hielten, Russland zu vertreten. Konservative und nationalistische Politiker*innen versuchten, aus der Welle des Hasses gegen Manizha Profit zu schlagen.
Im Monat nach ihrer Nominierung wurde Manizha von Seiten der Vorsitzenden des Oberhauses des russischen Parlaments Walentina Matwienko scharf kritisiert, und auch Vertreter*innen der Russisch-Orthodoxen Kirche meldeten sich mit Kritik an ihr zu Wort. Ihren Höhepunkt erreichte die Kampagne gegen Manizhas Teilnahme am ESC mit der Forderung einer lokalen Organisation an das russische Investigativkomitee, zu prüfen, ob ihre Performance „die Würde russischer Frauen verletzt“. Allerdings erhielt Manizha auch viel Zuspruch von Künstler*innen, Musiker*innen, Aktivist*innen und gewöhnlichen Internetnutzer*innen. Neben den hasserfüllten Kommentaren wurden auf Twitter, Facebook und Instagram tausende Solidaritätsposts veröffentlicht. Einige Kommentator*innen, denen die Performance selbst ästhetisch nicht gefallen hatte, betonten nichtsdestotrotz ihr Entsetzen über die Angriffe gegen Manizha. Angesichts der enormen öffentlichen Aufmerksamkeit wurde „Russian Woman“ zum 2021 bisher am häufigsten aufgerufenen Video auf dem YouTube-Kanal des ESC. Wie sind die bösartigen Reaktionen konservativer und regierungsnaher Kräfte auf Manizhas Performance zu erklären? Warum hat „Russian Woman“ derart polarisiert, wenn es um die Frage geht, ob eine Künstlerin tadschikischer Herkunft Russland vertreten dürfe?
Das Erbe der „Völkerfreundschaft“
Die aktuellen Debatten müssen im Kontext des Diskurses um den „einzigartigen Weg“ Russlands betrachtet werden, der unter anderem die Frage einschließt, wie mit kultureller Vielfalt umzugehen sei. Russlands Präsident Wladimir Putin hat wiederholt seine Meinung zum Ausdruck gebracht, dass die Integration von Migrant*innen in westlichen Ländern nicht funktionieren würde, die Situation in Russland jedoch vollkommen anders sei. Er glaubt, dass sich im Zuge der historischen Entwicklung Russlands zu einem multinationalen Staat stabile Formen des friedlichen Zusammenlebens unterschiedlicher „Völker“ und „Ethnien“ herausgebildet haben. Für Putin gehören Migrant*innen aus postsowjetischen Republiken zu einem gemeinsamen zivilisatorischen Raum, „dessen Bindeglied das russische Volk, die russische Kultur ist“. In seinem berühmten Interview mit der Financial Times vertrat der russische Präsident die Ansicht, dass die Probleme der westlichen Migrationspolitik auf den Vorrang individueller Rechte zurückzuführen seien. Im Gegensatz dazu stünden in Russland traditionelle Werte im Mittelpunkt, weshalb Menschen unterschiedlicher Ethnien dort gut miteinander auskämen.
Wenn Putin auf diese Weise über die „nationale Frage“ spricht, greift er auf die grundlegenden ideologischen Muster der sogenannten „Völkerfreundschaft“ (Druzhba Narodov) zurück, die in der Sowjetunion Mitte der 1930er-Jahre den proletarischen Internationalismus ablöste. Dem Historiker Terry Martin zufolge sorgte die „Völkerfreundschaft“ erstens für eine „Rehabilitation der traditionellen russischen Kultur“, die von nun an als einendes Band zwischen den „brüderlichen Völkern“ verstanden wurde. Zweitens propagierte sie die Vorstellung, dass es sich bei den nationalen Gemeinschaften der Sowjetunion um homogene Einheiten handele. Die heutige Nationalitätenpolitik Russlands beruht größtenteils auf der Prämisse, dass die verschiedenen Völker homogene Einheiten sind, die unter der Obhut ihres „älteren russischen Bruders“ miteinander interagieren. In Fragen der kulturellen Repräsentation führt diese Vorstellung dazu, dass die Angehörigen „brüderlicher Völker“ zwar „ihre“ Kultur in folklorisierter Form darbieten dürfen – zum Beispiel, indem sie auf Stadtfesten in ethnischen Kostümen auftreten – aber nicht das Recht besitzen, die „große russische Kultur“ zu vertreten.
Diese Art der Repräsentation wurde durch Manizhas Performance infrage gestellt. Sie rückt die individuelle statt der kollektiven Identität in den Mittelpunkt. Dabei verbindet sie Einflüsse aus der russischen Volksmusik mit anderen musikalischen und visuellen Codes, die der von ihr gezeichneten russischen Frau kosmopolitische Züge verleihen. In ihrer Performance bezieht sich die „russische Frau“ weniger auf ethnische Herkunft als vielmehr auf geteilte soziale Erfahrungen.
Die Reaktionen auf Manizhas empowernde Botschaft
Manizha, die als Independent-Künstlerin von den großen Akteuren der russischen Musikindustrie unabhängig ist, spricht sowohl in ihrer Kunst als auch in ihren öffentlichen Statements immer wieder die brennendsten sozialen Probleme ihres Landes an. Sie thematisiert regelmäßig das Problem der häuslichen Gewalt, unterstützt offen die LGBTQ-Gemeinschaft und ist seit Dezember 2020 die erste russische Sonderbotschafterin für das UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR). In ihrem Musikvideo „Nedoslawianka“ („Unterslawe“) erzählt sie, wie sie es schaffte, ihren „ethnischen Minderwertigkeitskomplex“ zu überwinden, und präsentiert sich als Verbündete aller Menschen, die mit ihrer Identität zu kämpfen haben. Trotz ihrer persönlichen Erfahrungen, als Kind durch den Bürgerkrieg in Tadschikistan zur Auswanderung nach Russland gezwungen worden zu sein, kommt ihre Botschaft nicht bei allen Migrant*innen gut an. Neuankömmlinge aus Zentralasien vermeiden in der Regel öffentliche Aufmerksamkeit und halten sich aufgrund ihrer prekären rechtlichen Lage mit Anerkennungsforderungen zurück. Hinzu kommt, dass ein Großteil der Führungsriege in den Organisationen der in Russland lebenden Zentralasiat*innen noch zu Zeiten der Sowjetunion großgeworden ist, weshalb ihnen Manizhas kosmopolitische Ästhetik und ihre emanzipatorische Botschaft vollkommen fremd sind.
Bisher ist Manizhas empowernde Botschaft vor allem bei jungen Künstler*innen, Blogger*innen und Aktivist*innen auf Resonanz gestoßen, die den sogenannten Völkern Russlands angehören. Das interessanteste Beispiel hierfür ist Agasshin, ein Beautymagazin auf Instagram, das die Erfahrungen von Menschen thematisiert, die in Russland oft als ethnische Minderheiten wahrgenommen werden. Gegründet wurde es von Sophia Jung Shin An, die Kulturwissenschaftlerin und Make-Up-Artist ist. Als koreanische Jüdin hat sie selbst Ausländerfeindlichkeit und Rassismus erlebt. Das Team des Magazins möchte Menschen unterschiedlicher Herkunft eine Plattform bieten, um ihre Geschichten zu erzählen, und zu einem Wandel popkultureller Normen beizutragen. Im Zuge des Skandals um Manizhas Nominierung stellten sich die Herausgeber*innen von Agasshin hinter sie und ihren intersektionalen Ansatz.
Manizhas „Russian Woman“ bringt frischen Wind in die Debatte, wie die Vielfalt Russlands kulturell repräsentiert werden soll. Im Zuge der aktuellen Diskussionen wurden neue Möglichkeiten sichtbar, mit Fremdenfeindlichkeit umzugehen. So organisieren sich Menschen, die – unabhängig davon, ob sie in Russland geboren wurden oder nicht – ethnisch als anders wahrgenommen werden, momentan in neugeschaffenen Solidaritätsnetzwerken. Von wichtiger symbolischer Bedeutung ist auch Manizhas Entscheidung, im Titel auf Russisch den Ausdruck „russkaja“ statt „rossijskaja“ für „russische Frau“ zu verwenden. Im heutigen russischen Sprachgebrauch bezeichnet der Ausdruck russkij/russkaja vor allem die russische Ethnizität, während rossijski/rossijskaja eine breiter gefasste staatsbürgerliche Identität ausdrücken soll. In der englischen Version des Titels geht dieser Unterschied verloren.Manizhas Lied stellt also einen bedeutenden Schritt dar, den ersten der beiden Ausdrücke von seinen exklusiven ethnischen Konnotationen zu befreien.
Mark Simon ist Assistenzprofessor an der Moskauer Schule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften (Moscow School of Social and Economic Sciences, MSSES).