Was die Wahlen zur russischen Staatsduma den Kreml kosten
Vom 17. bis zum 19. September finden die Wahlen zur russischen Staatsduma statt – dem Unterhaus des nationalen Parlaments. Alle 450 Sitze werden für die Dauer der achten Legislaturperiode der Duma vergeben, die bis 2026 laufen wird, und damit die nächsten Präsidentschaftswahlen 2024 miteinschließt. Präsident Wladimir Putin hat bereits erklärt, dass er „sehr hofft“, dass die kremltreue Partei Einiges Russland ihre dominante Stellung behaupten kann, und „in der Lage sein wird, die notwendigen legislativen Entscheidungen im Interesse des Landes zu treffen“.
Russlands Parlament wird oft als ein Putin und seiner Regierung treu ergebenes Organ betrachtet, das lediglich deren Entscheidungen absegnet; als ein Stück demokratischer Fassade. Im Großen und Ganzen mag das stimmen. Jedoch ist die exekutive Gewalt in Russland in einem beträchtlichen Maße davon abhängig, dass der Kreml die Kontrolle über die Legislative behält. Würde die Exekutive ihre Kontrolle über die Legislative nach den diesjährigen Wahlen verlieren, könnte es eine Rückkehr zu den von lebhaftem Streit geprägten Beziehungen zwischen Exekutive und Legislative geben, die die frühen 2000er-Jahre prägten. Ein solches Szenario wäre für die Regierung von Präsident Putin mit hohen politischen Kosten verbunden, und würde einen herben Rückschlag für die herrschende Elite des Landes bedeuten. Deshalb nimmt der Kreml die bevorstehenden Wahlen sehr ernst.
Eine teure Scharade?
Beobachter*innen betrachten die russischen Wahlen oft als eine bloße „Scharade“. So wird argumentiert, dass offizielle Ergebnisse in keiner Beziehung zu den tatsächlich abgegebenen Stimmzetteln stünden, und schlicht den Wünschen des Kremls angepasst würden. Folgt man diesem Narrativ, dann kann ein Gefühl der Unausweichlichkeit entstehen. Siege der Regierung werden fast als natürliche Ordnung der Dinge betrachtet. Das ist einer der Gründe, warum die politische Apathie wächst.
Die Resultate der russischen Wahlen sind jedoch alles andere als unausweichlich. Die überwältigenden Siege der Regierung verdanken sich zum Teil teuren Interventionen und Manipulationen, mithilfe derer die Chancen von Oppositionskandidat*innen verringert und die Aussichten von Einiges Russland verbessert werden sollen. Die Machthabenden mögen zwar meistens gewinnen, dies verlangt ihnen allerdings ein konstantes Management ab. Wenn Analysen davon ausgehen, dass die Wahlergebnisse bereits im Vorhinein feststünden, laufen sie Gefahr die entscheidende Frage zu vernachlässigen, wie diese Ergebnisse erzielt werden, und welche Kosten mit ihnen verbunden sind.
Schritte zum Sieg
Da die Zustimmungswerte von Einiges Russland im Juli und August 2021 unter 30 Prozent lagen, müssen die Machthabenden auf ein immer größeres „Manipulationsmenü“ zurückgreifen, um die von Putin gewünschten Ergebnisse sicherzustellen. Dieses umfasst die ganze Palette von Wahlanreizen bis einem harten Vorgehen gegen die Opposition und Wahlfälschungen.
Der Präsident hat Rentner*innen, militärischem Personal und Polizist*innen eine einmalige Barauszahlung im Vorfeld der Wahlen versprochen. Walentina Matwienko – die Sprecherin des Föderationsrats, des Oberhauses des nationalen Parlaments – betonte, dass es sich dabei nicht um einen politischen Schritt handele, jedoch gibt es guten Grund, daran zu zweifeln. Es ist schwierig, die Zahlungen nicht als einen Versuch zu sehen, sich der Unterstützung eines Teils der russischen Gesellschaft zu vergewissern, der traditionell zu Putins Basis gehört.
Die politische Opposition ist derweil einer beispiellosen Repression ausgesetzt. Unter anderem wurden Kandidat*innen von der Wahl ausgeschlossen, weil sie Verbindungen zu Alexej Nawalnys Bewegung und Organisationen hatten, die nun von den Behörden als „extremistisch“ gebrandmarkt werden. Zudem hat Russlands Telekommunikationsaufsicht Roskomnadsor den Zugang zur Website des Smart-Voting-Projekts von Nawalnys Team gesperrt, einer Initiative, die taktisches Wählen fördern möchte, um die Stimmen der Opposition in den Wahlbezirken auf diejenigen Kandidat*innen zu bündeln, die am meisten Aussichten haben, die Regierungskandidat*innen zu schlagen.
Falls all diese Schritte im Vorhinein der Wahl nicht ausreichen, lassen sich die Ergebnisse auf einem direkteren Wege berichtigen. Die russische Zeitung Nowaja Gaseta hat eine Tonaufnahme veröffentlicht, auf der ein Briefing von Beamten der Wahlkommission in Korolkow – einer Stadt in der Oblast Moskau – zu hören sein soll, bei dem sie Anweisungen erhielten, welche Ergebnisse erreicht werden sollen und welche Fälschungsmethoden dazu angewandt werden können.
Abgesehen von diesen Beispielen gibt es eine Vielzahl weiterer Möglichkeiten, den Wettkampf zu verzerren – von einer verzerrten Berichterstattung über den Versuch, die Wahlbeteiligung niedrig zu halten, bis zum Einsatz von Spoiler-Kandidat*innen, die nur dazu dienen, das Wähler*innenpotential der Opposition zu zerstreuen.
Nicht alles Manipulation
Natürlich wäre das ideale Szenario für den Kreml, dass die Menschen Einiges Russland wählen, weil sie tatsächlich die Partei und ihre Kandidat*innen unterstützen. In diesem Falle wäre es in viel geringerem Maße notwendig, die Wahl zu manipulieren, um das Ergebnis zu erzielen, das die politische Führung des Landes sich wünscht.
Und mit Sicherheit gibt es viele Russ*innen, die nicht davon überzeugt werden müssen, die Partei an der Macht zu unterstützen. Für diese Wähler*innen hat sich das Leben während Putins Herrschaft verbessert – und politischer Wandel würde aus ihrer Sicht das Risiko ungewollter Instabilität mit sich bringen.
Der Sprecher der Staatsduma Wjatscheslaw Wolodin hat Russland als die „letzte Insel von Freiheit und Demokratie“ in der Welt bezeichnet. Verständlicherweise wurde darauf mit ungläubigem Kopfschütteln reagiert. Aber auch die andere Extremmeinung – dass die Wahlen schlicht einem Drehbuch des Kremls folgen – ist falsch. Die russischen Behörden müssen erhebliche Ressourcen investieren, um die gewünschten Ergebnisse zu erzielen. Diese Tatsache unterstreicht das autoritäre Wesen der Politik im heutigen Russland. Sie muss aber im Auge behalten werden, wenn die Stärken und Schwächen des gegenwärtigen politischen Systems beurteilt werden sollen. Auch die Opposition könnte Trost darin finden, dass die Versuche des Kremls, die gewünschten Wahlergebnisse sicherzustellen, ihm immer höhere Kosten abverlangen.
Einiges Russland könnte bei den diesjährigen Staatsdumawahlen eine Mehrheit, vielleicht sogar eine Zweidrittelmehrheit, erreichen. Viel interessanter als das Ergebnis selbst ist jedoch, was der Kreml und Einiges Russland tun, um sie zu gewährleisten.
Dr. Ben Noble ist Dozent für Russische Politik am University College London, Associate Fellow des Chatham House, und Senior Research Fellow an der Höheren Wirtschaftsschule in Moskau.