Was Sowjetrock mit belarusischer Protestmusik zu tun hat
Wie wichtig Musik sein kann, um die Menschen in der postsowjetischen Welt für eine gemeinsame Sache zu mobilisieren und zusammenzubringen, ließ sich bereits im Zuge der letzten beiden großen Revolutionen in der Ukraine beobachten. Auch für die aktuelle Protestbewegung in Belarus spielt Musik eine wichtige Rolle. Sowohl vor als auch nach der umstrittenen belarusischen Präsidentschaftswahl im August 2020 tauchten unzählige Lieder auf, die nahezu alle unterschiedlichen Genres der Populären Musik umfassten.
Eines der Lieder, die ein Revival erlebten, war „Chotschu Peremen“ („Ich will Veränderung“). Der im Original von der sowjetischen Band Kino geschriebene und aufgeführte Song wurde zur inoffiziellen Hymne der Protestbewegung. Dies deutet auf einen gemeinsamen popkulturellen Bezugsrahmen hin, der seine Wurzeln in der Zeit der Sowjetunion hat, und zeigt den anhaltenden Einfluss der sowjetischen Popkultur auf die zeitgenössische belarusische Populäre Musik.
Spuren der sowjetischen Rockmusik
„Chotschu Peremen” ist auch in der Schlussszene des 1987 erschienenen Films Assa („Die Wespe“) von Sergei Solowjow zu hören, der Ende der 1980er-Jahre dazu beitrug, einer neuen Generation sowjetischer Underground-Rockmusiker – vor allem aus Leningrad (heute Sankt Petersburg), Moskau und Swerdlowsk (heute Jekaterinburg) – zu nationaler Berühmtheit zu verhelfen. Alle Bands der daraus hervorgegangenen Musikrichtung, die heutzutage häufig als Russkij Rok („Russischer Rock“) bezeichnet wird, haben gemeinsam, dass sie und ihr Publikum großen Wert auf die Lyrics ihrer Songs und deren Bedeutung legten. „Chotschu Peremen” ist dafür ein gutes Beispiel. Wegen seines vieldeutigen Textes, der den Wunsch nach und die Erwartung von Veränderung beschreibt, wurde das Lied seit seiner Veröffentlichung immer wieder als Protestsong verwendet, zum Beispiel während der Antiregierungsproteste in Russland 2007-2008.
Auch in anderen Liedern, die im Zuge der Proteste in Belarus 2020 aufkamen, scheint das Erbe des Russkij Rok durch. Titel und Melodie von „Wskormlennyje Odnoi Siskoi“ („Von einer Brust genährt“) der belarusischen Band VIA Iabatkastan sind an das Lied „Skowannyje Odnoi Zepju“ („An eine Kette gefesselt“) der russischen Rockband Nautilus Pompilius angelehnt. Der Song „Rodina“ („Heimatland“) des belarusischen Rappers SiROP würdigt das gleichnamige Lied der sowjetischen Band DDT, indem es seinen Refrain übernimmt. Der Text des Refrains und die ambivalente Beziehung des Protagonisten zu seinem Heimatland werden durch SiROPs Musikvideo unterstrichen, in dem Aufnahmen von Polizeigewalt in Belarus zu sehen sind.
Sowohl Nautilus Pompilius als auch DDT entstammen der Russkij Rok-Szene der 1980er-Jahre. Ihre Texte können als Kritik an der Sowjetunion verstanden werden, deren Erbe im heutigen Belarus fortlebt. Wenn zeitgenössische Bands sich heutzutage also auf diese Texte und Musik beziehen, dann stellen sie eine Verbindung zur Perestroika und dem nahenden Ende des sowjetischen Imperiums her und drücken so ihre Sehnsucht nach einem Ende der Herrschaft des belarusischen Präsidenten Aljaksandr Lukaschenka aus.
Das Vermächtnis der Vokal- und Instrumentalensembles
Das Lied „Kartocha“ der Gruppe Dai Darogu! ist durch eine andere Tradition der sowjetischen Populären Musik inspiriert, die bei den Protesten in Belarus auffällig wenig zu hören war: die sogenannten Vokal- und Instrumentalensembles (bekannt unter ihrer russischen Abkürzung VIA). Sie wurden 1966 von den sowjetischen Behörden eingeführt, um mehr Kontrolle über die Amateurmusikszene auszuüben, und spielten in der sowjetischen Musikgeschichte eine wichtige Rolle, da sie eine Verbindung zwischen der „Estrada“ – der offiziellen sowjetischen Populären Musik – und der Amateurmusik des Landes herstellten. Eine der bekanntesten und erfolgreichsten VIAs war die sowjetisch-belarusische Gruppe Pesnjary („Die Sänger“). Die Gruppe um Frontmann Wladimir Muliawin feierte in den 1970er-Jahren ihre größten Erfolge.
Das Eröffnungsmotiv von „Kartocha” ist dem Lied „Kosil Jas Konjuschinu“ („Ich mähte den Klee“) von Pesnjary entnommen. Während sich der Text von „Kartocha“ scheinbar um persönliche Themen dreht und auf direkte politische Anspielungen verzichtet, setzen Dai Darogu! sich in ihrem Lied „Baju-Bai“ offener mit Lukaschenkas Polizeistaat auseinander. Im dazugehörigen Musikvideo werden Bürger*innen von belarusischen Sicherheitskräften mit Mähdreschern gejagt, während sie versuchen, sich über die Grenze in Sicherheit zu bringen. Auch in dieser Szene steckt eine Anspielung auf „Kosil Jas Konjuschinu“: Die Sicherheitskräfte, die die Menschen brutal niedermähen, verweisen auf den Klee mähenden Protagonisten des Songs von Pesnjary. Das Motiv des Mähdreschers und Pesnjarys Lied tauchen auch in einem anderen Bereich der sowjetischen Popkultur gemeinsam auf: In einer Episode der Zeichentrickserie Nu, Pogodi! („Na, warte!“) aus dem Jahr 1973 jagt ein Wolf einen Hasen mit dem Mähdrescher, während im Hintergrund „Kosil Jas Konjuschinu“ läuft.
Durch den satirischen Gebrauch sowjetischer Symbole soll verdeutlicht werden, wie sehr Lukaschenkas Herrschaft in den Traditionen der Sowjetunion verwurzelt ist. Ein Beispiel dafür ist auch die Verwendung der Bezeichnung VIA selbst, die nicht nur als humoristisches Element genutzt wird, sondern darüber hinaus einen politischen Beiklang erhält. Auch die oben bereits genannte Band VIA Iabatkastan knüpfen mit ihrem Namen an die Tradition der VIA an. Sie verspotten damit Lukaschenka, der ein großer Fan von VIAs ist – insbesondere von Pesnjary, deren Erbe von zahlreichen Musikgruppen am Leben gehalten wird, unter anderem vom gleichnamigen belarusischen Staatsensemble Pesnjary, das Muliawin bis zu seinem Tod 2003 leitete.
Bereits in VIA Iabatkastans Bandname findet sich ein weiterer Seitenhieb gegen Lukaschenka. Er enthält den Hashtag #Iabatka, der übersetzt „Ich bin Batka“ bedeutet und den Slogan „Je suis Charlie“ adaptiert, der 2015 in Gedenken an die Opfer des Terroranschlag auf die Redaktion des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo entstand. Batka ist ein Spitzname Lukaschenkas. Der russischen Zeitung Nowaja Gaseta zufolge ist #Iabatka der Versuch Russlands, Werbung für Lukaschenka zu machen, und tauchte erstmals 2020 in Belarus auf.
Die Macht der Musik, Menschen zu mobilisieren, ist ein wiederkehrendes Merkmal russischer, ukrainischer und belarusischer Protestbewegungen. Populäre Musik zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass sie sich immer wieder eines geteilten popkulturellen Erbes bedient, um es ihren eigenen Zwecken anzupassen und zu erneuern. Zeitgenössische Bands greifen unter anderem auf Lieder aus der Sowjetunion zurück, um so Verbindungen zwischen der eigenen Gegenwart und den alten Liedern herzustellen, deren Bedeutungen sie mit neuem Leben füllen. Während der Russkij Rok an eine Ära erinnert, die mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums endete, stellt der Rückgriff auf VIAs und die Musik von Pesnjary eine subversive Aneignung der staatlich kontrollierten Populären Musik der Sowjetzeit dar, die symbolisch für die Kultur des sowjetischen Belarus und durch Lukaschenka gewissermaßen auch das heutige Belarus steht.
David-Emil Wickström ist Professor für Geschichte der Populären Musik an der Popakademie Baden-Württemberg. Er ist Koautor des 2019 erschienenen Buchs „War of Songs: Popular Music and Recent Russia-Ukraine Relations“.