ZOiS Spotlight 31/2021

Wem nützt Georgiens Freihandel mit der EU?

Von Julia Langbein Irina Guruli 08.09.2021
Georgiens Nationalflagge neben der Fahne der Europäischen Union in Tiflis © IMAGO / Frank Sorge

Dank einer stärkeren Liberalisierung des Handels mit der EU konnte Georgien in den letzten fünfzehn Jahren seine Exporte in die EU steigern und – zu einem gewissen Grad – diversifizieren. Dieses Bild trübt sich jedoch, wenn man genauer untersucht, wer vom verbesserten Zugang zu den Märkten der EU profitiert hat. Sechzig Prozent aller georgischen Warenexporte in die EU entfielen im Jahr 2020 auf Sektoren wie den Mineralstoffsektor, deren zentrale Marktteilnehmer*innen eng mit den oligarchischen Netzwerken des Landes unter Führung des Milliardärs Bidsina Iwanischwili verflochten sind. Bisher hat der Freihandel zwischen der EU und Georgien deshalb ungewollt dazu beigetragen, oligarchische Strukturen aufrechtzuerhalten.

Diese Entwicklung ist besorgniserregend und beschränkt sich nicht nur auf Georgien, wie Forschungen zu den Auswirkungen des Freihandels zwischen der EU und der Ukraine gezeigt haben. In den laufenden Diskussionen über die Zukunft der Östlichen Partnerschaft (ÖP) der EU muss dieses Thema stärkere Berücksichtigung finden, insbesondere auch im Hinblick auf das im Dezember 2021 stattfindende Gipfeltreffen der ÖP. Das ist umso wichtiger, da es eines der erklärten Ziele der ÖP ist, langfristig inklusive und resiliente Volkswirtschaften zu schaffen, unter anderem durch die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit kleinerer und mittlerer Unternehmen (KMU) und ihrer Integration in die Wertschöpfungsketten der EU.

Zentrale Profiteure des georgischen Freihandels mit der EU

Unter den Ländern der ÖP nimmt Georgien bei der Liberalisierung des Handels mit der EU eine Vorreiterrolle ein. Dank des „Sonderanreizsystems für nachhaltige Entwicklung und verantwortungsvolle Regierungsführung“ (Special Incentive Arrangement for Sustainable Development and Good Governance/ Generalized Scheme of Preferences, GSP+) wurden bereits 2006 neunzig Prozent des Handelsumsatzes Georgiens mit der EU durch zollfreie Waren erwirtschaftet. Die unmittelbaren Auswirkungen der im September 2014 vorläufig in Kraft getretenen Vertieften und Umfassenden Freihandelszone (Deep and Comprehensive Free Trade Area, DCTFA) auf die bilateralen Handelsbeziehungen zwischen der EU und Georgien waren deshalb begrenzt.

Auch nach dem Beitritt Georgiens zu GSP+ wurden die Exporte des Landes in die EU durch mineralische Stoffe dominiert (Tabelle). Daten aus dem Jahr 2020 deuten darauf hin, dass mineralische Stoffe ihre Spitzenposition beibehalten haben, und sich ihr Exportvolumen in den vorhergehenden fünfzehn Jahren mehr als verdoppelt hat. Bei den Exporten von Agrargütern und Textilien waren im Zuge der Handelsliberalisierung mit der EU die stärksten Zuwächse zu verzeichnen, während Metallexporte an Bedeutung verloren haben.

Georgiens wichtigste Exportgüter in die EU, 2004–2020

Rang 2004, vor GSP+ (Exportanteil, Gesamtexportvolumen) 2007, nach GSP+ (Exportanteil, Gesamtexportvolumen) 2013, vor DCFTA (Exportanteil, Gesamtexportvolumen) 2020, nach DCFTA (Exportanteil, Gesamtexportvolumen)
1 Mineralische Stoffe (58.4%, €183.7m) Mineralische Stoffe (55.8%, €256m) Mineralische Stoffe (57.3%, €382m) Mineralische Stoffe (60%, €460m)
2 Metalle (13.3%, €41.9m) Agrargüter (19.2%, €87.9m) Agrargüter (18.4%, €122.9m) Agrargüter (18.2%, €139.3m)
3 Agrargüter (10.7%, €33.5m) Metalle (11.9%, €54.5m) Metalle (7.9%, €52.8m) Textilien (6.8%, €52m)
...        
5     Textilien (3.6%, €23.7m) Metalle (3.4%, €25.8m)
...        
9   Textilien (0.71%, €3.3m)    
10 Textilien (0.86%, €2.7m)      

Quelle: Eurostat (Datenreihe ‘EU trade since 1988 by HS2-4-6 and CN8’ (DS-645593)), Berechnungen der Autorinnen

Die Eigentümerstrukturen der Unternehmen in Georgiens wichtigsten Exportsektoren machen deutlich, wer am stärksten vom Freihandel mit der EU profitiert. Im Mineralstoffsektor ist die Rich Metals Group (RMG) Copper das bedeutendste Exportunternehmen des Landes. Seit 2019 gehört RMG Copper zu Mining Investments LLC, einem Unternehmen, das von dem russischen Milliardär Dmitrij Troizkij kontrolliert wird. Zusammen mit anderen russischen Geschäftsleuten leitete Troizkij bereits RMG B.V., den früheren Eigentümer von RMG Copper.

Berichte der georgischen NGO Green Alternative legen nahe, dass RMG B.V. über enge Beziehungen zu Georgiens herrschenden Eliten verfügte, die ihre Augen vor den ökologischen und sozialen Auswirkungen der Minenarbeiten von RMG verschlossen. Ein Beispiel dafür ist die Entscheidung des georgischen Kulturministeriums aus dem Jahr 2013, der ältesten Goldmine des Landes in Sakdrissi den Status einer geschützten historischen Stätte zu entziehen. Diese Entscheidung ermöglichte es RMG Gold – einem Schwesterunternehmen von RMG Copper – dort mit Minenarbeiten zu beginnen. Zudem ließen Berichten zufolge Personen, die mit RMG Copper in Verbindung stehen, der georgischen Regierungspartei „Georgischer Traum“, die enge Beziehungen zu Iwanischwili unterhält, im Vorfeld der Parlamentswahlen 2020 großzügige Spenden zukommen.

Georgiens Agrar- und Textilindustrie stellten 2020 etwa 25 Prozent der Exporte des Landes in die EU. In diesen Industrien sind die Eigentümerstrukturen etwas vielfältiger als im Mineralstoffsektor. Vor allem im Textilsektor sind die Profite des Freihandels aber nichtsdestotrotz sehr ungleich verteilt.

Die Abschaffung von Zöllen im Rahmen von GSP+ und günstige Regierungsentscheidungen trugen ab 2006 dazu bei, die ausländischen Direktinvestitionen zu steigern und die Anzahl der Fertigungsverträge für Kleidung mit internationalen Marken wie Adidas und Moncler zu erhöhen. Die Entscheidung der Regierung, freie Wirtschaftszonen zu schaffen, und die Einführung des „Produce in Georgia“ („Produzieren Sie in Georgien“) – Programms im Jahr 2014 trugen erheblich dazu bei, insbesondere Investor*innen aus der Türkei durch geringere Steuern und günstige Arbeitskosten anzulocken.

Allerdings ist die Tendenz der Regierung, Investor*innen und lokalen Textilproduzent*innen vor allem im Hinblick auf die Arbeitsbedingungen freie Hand zu lassen, mit hohen sozialen Kosten für die Beschäftigten vor Ort verbunden. Lokale Unternehmen wie Geo-M-Tex, ein früherer Vertragspartner von Moncler, erhielten von 2016 bis 2017 im Rahmen des „Produce in Georgia“-Programms massive finanzielle Zuschüsse, und konnten zudem 2017 vom EU4Business-Programm profitieren. Ein aktueller Bericht dokumentiert die engen persönlichen Verbindungen zwischen den damaligen Eigentümern des Unternehmens Lasha Bagrationi und Ramaz Sagharadze und Mitgliedern der herrschenden Elite Georgiens.

Auch Teile der georgischen Agrarindustrie sind durch eine ungleiche Verteilung der Vorteile des Freihandels mit der EU gekennzeichnet. Nüsse und Wein stellen in diesem Bereich die wichtigsten Exportgüter Georgiens dar. Ein Großteil der kleinen georgischen Nussproduzent*innen kann vom Freihandel nur bedingt profitieren, da sie ihre Produkte über Zwischenhändler*innen aus der Türkei oder unterschiedlichen Ländern der EU exportieren. Diese kümmern sich für sie um einen Großteil der Regularien und Ausfuhrverfahren. Während Kleinproduzent*innen dadurch einerseits mehr verkaufen können, verringern sich andererseits ihre Profite aus den Verkäufen, da die Zwischenhändler*innen ihnen deutlich geringere Preise zahlen, als sie auf den Märkten der EU verlangen könnten.

Auf dem georgischen Weinmarkt sind einige wenige Großunternehmen wie Tbilvino und Telavi Wine Cellar aktiv. Einige der führenden Vertreter*innen dieser Unternehmen verfügen über Beziehungen zur Regierungspartei „Georgischer Traum“. Das legen mehrere Spenden aus den Jahren 2017 und 2020 sowie Verbindungen zu Medien nahe, die die Regierungspartei unterstützen. Zugleich nehmen die Nationale Weinagentur und die Georgische Weinvereinigung eine wichtige Rolle dabei ein, die Eigentümerstrukturen in der Weinindustrie zu diversifizieren. Diese Organisationen halfen lokalen Weinproduzent*innen dabei, Informationsasymmetrien zu überwinden, führten Zertifizierungsprozesse für Exportunternehmen ein, und förderten die Teilnahme an internationalen Messen, wodurch die Bekanntheit georgischer Weine gesteigert werden konnte.

Durch EU-Partnerschaftsprojekte wurde ein Austausch zwischen den Behörden in Georgien und in der EU ermöglicht. Das führte dazu, dass zwischen 2013 und 2020 etwa 300 Weinunternehmen, größtenteils kleinere und mittlere Unternehmen, Waren exportierten. Jedoch machte der georgische Weinsektor Eurostat-Daten zufolge 2020 nur 2,65 Prozent der Gesamtexporte des Landes in die EU aus.

Implikationen für die ÖP

Die Handelsliberalisierung zwischen Georgien und der EU hat bisher weitestgehend zum Erhalt der oligarchischen Strukturen des Landes beigetragen oder großen ausländischen Firmen Profite verschafft, wodurch hohe ökologische und soziale Kosten für Georgien verursacht wurden. Diese Erkenntnisse sollten in die verschiedenen Programme der EU einfließen, mit denen die Wettbewerbsfähigkeit und Integration lokaler Firmen in europäische Wertschöpfungsketten insbesondere in Georgien, Moldau und der Ukraine gefördert werden sollen, jenen drei Ländern der ÖP, die ein Assoziierungsabkommen mit der EU geschlossen haben. Wenn es mehr Akteuren aus der lokalen Wirtschaft ermöglicht wird, sich an Handel und anderen unternehmerischen Aktivitäten zu beteiligen, ist ein inklusiveres exportgetriebenes Wachstum möglich.


Julia Langbein leitet den Forschungsschwerpunkt „Politische Ökonomie und Integration“ am ZOiS.

Irina Guruli ist stellvertretende Direktorin des Economic Policy Research Center und assoziierte Professorin an der Staatlichen Ilia-Universität in Tiflis.