ZOiS Spotlight 6/2021

Wie vereint ist Belarus gegen das Regime?

Von Félix Krawatzek 17.02.2021
imago images / ITAR TASS

2020 war für Belarus ein aufwühlendes Jahr. Nach der Präsidentschaftswahl im August 2020 brachen unter den Augen der Weltöffentlichkeit Massenproteste aus. Im Rahmen eines internationalen Tags der Solidarität mit Belarus wurden am 7. Februar 2021 verschiedene Veranstaltungen durchgeführt und eine Reihe von Stellungnahmen veröffentlicht. Der Tag machte die weltweite Anteilnahme an den politischen Ereignissen im Land deutlich. Bereits vor den politischen Unruhen wurde Belarus von der Covid-19-Pandemie schwer getroffen. Sinkende Lebensstandards offenbaren zudem die strukturellen Schwächen der belarusischen Wirtschaft. Das Vertrauen in die politischen Institutionen ist gering und die Bevölkerung traut dem Regime nicht zu, Lösungen für ihre Probleme anbieten zu können.

Um mehr darüber zu erfahren, welche Meinungen die Belarus*innen nach Monaten der Proteste in ihrem Land vertreten, führte das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) im Dezember 2020 eine Onlineumfrage mit 2.000 Teilnehmer*innen im Alter von 16 bis 64 Jahren durch, die in Städten mit mehr als 20.000 Einwohner*innen leben. Die Zusammensetzung der Stichprobe entsprach hinsichtlich der Merkmale Geschlecht, Alter und Wohnort der zugrundeliegenden Bevölkerungsstruktur von Belarus.

Konsens über Wahlbetrug

Offiziellen Angaben zufolge wurde der belarusische Präsident Aljaksandr Lukaschenka im August mit 80 Prozent der Stimmen wiedergewählt. Allerdings stimmten 65 Prozent der befragten Belarus*innen der Einschätzung, das Wahlergebnis sei zugunsten Lukaschenkas gefälscht worden, entweder teilweise oder vollständig zu (Grafik 1). Ein im November 2020 veröffentlichter Bericht der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bestätigte, dass die Wahl „offensichtliche Mängel“ aufwies und betonte zudem, dass die im Land begangenen Menschenrechtsverletzungen “massiv und systematisch und zweifelsfrei bewiesen” seien.

Grafik 1: Meinung der Belarus*innen zu Wahlbetrug bei der Präsidentschaftswahl 2020

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Von den Befragten gaben 18 Prozent an, für Lukaschenka gestimmt zu haben, während 53 Prozent der Oppositionskandidatin Swjatlana Zichanouskaja ihre Stimme gaben. Die übrigen Befragten weigerten sich, die Frage zu beantworten, oder gaben an, ungültig gewählt zu haben, was möglicherweise darauf hindeutet, dass die Befragten Angst um ihre persönliche Sicherheit hatten.

In den vergangenen Monaten bestimmten regimekritische Massenproteste das Geschehen in Belarus. Auf dem Höhepunkt der Demonstrationen waren im August nach Angaben von Beobachter*innen im ganzen Land fast eine Million Menschen auf der Straße. Im Dezember gab die Hälfte der Befragten an, jemanden zu kennen, der oder die an Protesten teilgenommen habe. Bei einer früheren Umfrage des ZOiS, die zwischen Juni und Juli 2020 unter 18 bis 34 Jahre alten Belarus*innen durchgeführt wurde, lag dieser Anteil noch bei 20 Prozent. Er ist also seitdem deutlich gestiegen.

In der jüngsten Umfrage gaben 14 Prozent der Befragten an, dass sie seit der Wahl selbst an Protesten teilgenommen hätten. Hochgerechnet auf die belarusische Gesamtbevölkerung entspricht dies etwa 700.000 Menschen zwischen 16 und 64 Jahren. Die Gründe, zu protestieren, waren unterschiedlich. Als häufigster Grund wurde jedoch die Erschütterung genannt, die die staatliche Gewalt gegen Demonstrant*innen bei den Befragten ausgelöst hatte. Zwanzig Prozent der Befragten gaben an, dass sie selbst, ihre Familienmitglieder oder Freund*innen Opfer staatlicher Gewalt geworden seien. Aus den Antworten geht hervor, wie wenig die Menschen den Institutionen ihres Landes Ende 2020 vertrauten.

Eine zerbrochene Gesellschaft?

Wie beurteilen die Belarus*innen nach einer gefälschten Wahl und darauffolgenden Massenprotesten die aktuelle politische Lage in ihrem Land? Basierend auf vierzehn politisch relevante Fragen wurden die Teilnehmer*innen der Umfrage entweder als sehr regimetreu, eher regimetreu, unentschieden, eher regimekritisch oder sehr regimekritisch klassifiziert. Jeder dieser Kategorien wurde eine Punkteskala zugeordnet. Ausgehend von ihren Antworten wurden für alle Befragten Werte auf den fünf unterschiedlichen Skalen ermittelt, um sie dann derjenigen Kategorie zuzuordnen, auf deren Skala sie den höchsten Wert erzielten. Die Konsistenz der Kategorien wurde durch eine Korrelationsanalyse bestätigt. Es ist allerdings zu beachten, dass Menschen widersprüchliche Meinungen vertreten können.

In die Kategorien gingen unter anderem folgende Faktoren ein: das Vertrauen der Befragten in den Präsidenten oder den oppositionellen Koordinationsrat, ihre Wahlentscheidung und ihre Meinungen zu Demonstrationen, staatlicher Gewalt und möglichen Wegen aus der Krise.

Diesem Schema zufolge waren 42 Prozent der Befragten sehr regimekritisch. Sie bildeten in der Umfrage die bei weitem größte Gruppe (Grafik 2). Am anderen Ende des Spektrums fanden sich 13 Prozent, die sehr regimetreu waren, und 17 Prozent, die als eher regimetreu eingeordnet wurden, also eine moderate Unterstützung des Regimes zeigten.

Grafik 2: Einstellungen gegenüber dem Regime in Belarus

Es wurde zudem untersucht, welche Zusammenhänge zwischen verschiedenen demografischen Merkmalen der Befragten und ihren Einstellungen gegenüber dem Regime bestanden. Dabei zeigte sich zunächst, dass das Alter nur eine geringe Rolle spielte. Zwar sind Menschen in ihren Dreißigern mit einer höheren Wahrscheinlichkeit politisch unentschieden oder moderate Regimekritiker*innen, jedoch war hier kein systematischer Zusammenhang zu beobachten, wie er sich im Hinblick auf den Bildungsgrad, das Geschlecht und den Wohnort der Befragten zeigte.

Als ein entscheidender Faktor stellte sich heraus, ob es sich bei den Befragten um Studierende handelte. Die Wahrscheinlichkeit, dass Studierende sehr regimekritisch eingestellt waren, lag fast 40 Prozentpunkte höher als bei anderen Befragten, während sehr regimetreue Einstellungen bei ihnen 60 Prozent weniger wahrscheinlich waren. Universitäten sind in der Tat zentrale Schauplätze der Kritik am belarusischen Regime. Hinzu kommt, dass die Wahrscheinlichkeit einer sehr regimekritischen Einstellung bei Befragten mit höherem Bildungsgrad signifikant höher war. Im Gegensatz dazu korrelierte ein niedrigerer Bildungsgrad sowohl mit höheren Unterstützungswerten für das Regime als auch mit einer politisch unentschiedenen Haltung.

Auch Geschlecht und Größe des Wohnortes korrelierten systematisch mit den Einstellungen gegenüber dem Regime. Regimekritische Einstellungen waren unter den männlichen Befragten besonders stark vertreten. Das Gleiche gilt für Teilnehmer*innen aus größeren Städten. Die Rolle des Geschlechts ist in diesem Fall besonders interessant, da viele Beobachter*innen die Mobilisierung von Frauen als ein wichtiges Merkmal für einen dauerhaften gesellschaftlichen Wandel in Belarus betont haben. Traditionell sind Frauen deutlich weniger in informelle politische Strukturen eingebunden als Männer.

Religion ist ebenfalls ein wichtiger Einflussfaktor. Viele von Lukaschenkas Unterstützer*innen sind orthodox, während Protestant*innen und Katholik*innen eher regimekritisch eingestellt sind. Darin spiegelt sich auch wider, wie sich die verschiedenen Konfessionen im Zuge der Proteste öffentlich positioniert haben.

Ein bemerkenswertes Ergebnis der Umfrage ist nicht zuletzt, dass regimekritische Befragte angaben, ihr Vertrauen in die belarusische Gesellschaft sei in den letzten sechs Monaten gestiegen. Die Proteste brachten verschiedene gesellschaftliche Gruppen zusammen und stärkten so das Vertrauen der Beteiligten in ihre Mitmenschen. Regimetreue Befragte berichteten hingegen von einem schwindenden Vertrauen in die belarusische Gesellschaft.

Was nun?

Die neuen Umfrageergebnisse verdeutlichen, wie tief die Kluft zwischen einem Großteil der belarusischen Bevölkerung und ihrer politischen Führung ist. Sie machen das Gefühl der Entfremdung sichtbar, das viele Belarus*innen gegenüber der politischen Klasse des Landes empfinden – und dies gilt nicht nur für diejenigen, die ihre Unzufriedenheit in den letzten Monaten auf die Straßen getragen haben. Allerdings steht die Opposition vor der Herausforderung, sehr unterschiedliche Teile der Bevölkerung hinter sich zu vereinen. Dass ein großer Teil der Menschen dem Regime kritisch gegenübersteht bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie Zichanouskaja unterstützen. Zwar mangelt es dem Regime an öffentlicher Unterstützung und es kann momentan nicht darauf hoffen, die gebildeten Schichten der großen Städte wieder für sich zu gewinnen. Nichtsdestotrotz gibt es keine Garantie dafür, dass es in absehbarer Zeit zusammenbrechen wird. Der momentane Stillstand, der durch harte Repressionen und die fehlende Dialogbereitschaft des Präsidenten geprägt ist, könnte noch einige Zeit andauern.


Félix Krawatzek ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZOiS, wo er den Forschungsschwerpunkt „Jugend in Osteuropa“ leitet. Die Umfrage, auf der dieser Text basiert, wurde im Rahmen des Projekts „Belarus am Scheideweg? Ansichten der Bevölkerung nach der Wahl 2020“ durchgeführt.