ZOiS Spotlight 35/2021

Zehn Tage, die Jugoslawien ein Ende setzten: 30 Jahre nach dem vergessenen Krieg in Slowenien

Von Dejan Djokić 06.10.2021
Arkadij Schell / Alamy Stock Foto

Ende Oktober 1991 zogen sich die letzten Einheiten der Jugoslawischen Volksarmee friedlich und nahezu unbemerkt aus Slowenien zurück. Die größtenteils aus Bosnien, Montenegro, (Nord-)Mazedonien und Serbien stammenden Armeeoffizier*innen und Wehrdienstleistenden wurden über See evakuiert, da zu der Zeit der Krieg im benachbarten Kroatien eskalierte. Während die Welt mit Entsetzen auf die Zerstörung der kroatischen Stadt Vukovar und den Beschuss der historischen Altstadt von Dubrovnik durch die jugoslawische Armee schaute, feierte Ljubljana seinen Austritt aus der zerfallenden jugoslawischen Föderation. Die Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens wurde schließlich im Januar 1992 von der Europäischen Union (EU) anerkannt, nachdem Österreich und das gerade wiedervereinigte Deutschland diplomatischen Druck ausgeübt hatten.

Kaum sechs Monate zuvor hatte in Slowenien der erste Jugoslawienkrieg begonnen. Er war eine Folge der Unabhängigkeitserklärung des Landes am 25. Juni 1991. Kroatien hatte am selben Tag seine Unabhängigkeit erklärt, allerdings blieb die Lage dort zunächst relativ ruhig. Ganz anders in Slowenien, wo unmittelbar bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen der Jugoslawischen Volksarmee und der slowenischen Territorialverteidigung – die bis zu diesem Zeitpunkt Teil des jugoslawischen Militärs gewesen war – um die Kontrolle der Grenzposten begannen. Der Slowenienkrieg dauerte insgesamt nur zehn Tage, schockierte damals jedoch die Weltöffentlichkeit. Jugoslawien galt weltweit als ein Vorbild multiethnischer und multireligiöser Koexistenz, selbst nach den aufeinanderfolgenden Krisen, die das Land nach dem Tod von Präsident Tito 1980 heimgesucht hatten.

Der Anfang vom Ende Jugoslawiens

Verglichen mit den späteren Ereignissen in Kroatien, Bosnien und dem Kosovo war der Krieg in Slowenien kurz und relativ unblutig, wenn auch 44 Soldat*innen und Offizier*innen der Jugoslawischen Armee (unter ihnen Slowen*innen) und 18 Mitglieder der slowenischen Territorialverteidigung ihr Leben ließen. Die wahre Tragödie des Slowenienkriegs lag darin, dass er den Erhalt oder wenigstens die friedliche Auflösung des jugoslawischen Staats höchst unwahrscheinlich werden ließ. Nachdem der Bund der Kommunisten Jugoslawiens im Januar 1990 auseinandergebrochen war, war die Volksarmee die letzte verbliebene Institution Jugoslawiens. Obwohl einige slowenische Offizier*innen noch bis 1991 weiter in der Armee dienten, verlor sie bald ihren jugoslawischen Charakter. Anfang 1992 hatte sie sich de facto zu einer serbischen Armee entwickelt.

Mit dem Slowenienkrieg begannen die internationalen Interventionen im zerfallenden Jugoslawien. In Teilen des ehemals jugoslawischen Territoriums hält die internationale Präsenz bis heute an. Am 7. Juli 1991 traf sich eine Troika von Ministern der Europäischen Gemeinschaft mit führenden Vertretern der jugoslawischen Republiken und der Volksarmee auf der kroatischen Insel Brijuni (Brioni). Im Zuge des vereinbarten dreimonatigen Waffenstillstands sollten die Slowen*innen die Belagerung von Armeekasernen und anderen militärischen Posten beenden, und die Versorgung mit Elektrizität, Wasser und Nahrung wiederherstellen. Gleichzeitig sollten sich alle Armeeeinheiten in ihre Kasernen zurückziehen.

Nur wenige Tage später begann die Armee überraschend damit, sich komplett aus Slowenien auf größtenteils bosnische und serbische Stützpunkte zurückzuziehen. Der Ende Oktober abgeschlossene Abzug war im Brioni-Abkommen nicht vorgesehen gewesen. Die serbische Führung unter Slobodan Milošević hatte zu dieser Zeit beschlossen, Slowenien und Kroatien mit Ausnahme der von Serb*innen bewohnten Gebiete Kroatiens „aufzugeben“. Eine kleinere, von Serb*innen dominierte jugoslawische Föderation hätte theoretisch Bosnien-Herzegowina und möglicherweise Mazedonien eingeschlossen. Allerdings hatte die serbische Führung mittlerweile den Schluss gezogen, dass es für die Serb*innen besser wäre, in einem einheitlichen Staat zu leben und nicht als Minderheit in verschiedenen jugoslawischen Nachfolgestaaten. Schließlich zerfiel 2006 selbst die serbisch-montenegrinische Föderation, die noch bis 2003 den Namen „Föderale Republik Jugoslawien“ getragen hatte. Zwei Jahre später erklärte Serbiens südliche Provinz Kosovo unilateral ihre Unabhängigkeit – die jedoch bisher nicht von allen Mitgliedsstaaten der EU anerkannt wurde.

Der lange Schatten der Vergangenheit

Als Mitglied eines in Ljubljana stationierten Bataillons der Militärpolizei gehörte ich zu den letzten jugoslawischen Soldaten, die sich noch in Slowenien aufhielten. Da mein zwölfmonatiger Wehrdienst endete, durfte ich das Land Mitte September 1991 verlassen. Als der Flugverkehr zwischen den beiden Städten für einen kurzen Moment wieder aufgenommen wurde, flog ich von Ljubljana nach Belgrad. Diesen August kehrte ich nach Ljubljana zurück, um im Rahmen meines aktuellen Forschungsprojekts Erinnerungsorte aufzusuchen. Heute ist Slowenien ein relativ wohlhabender Mitgliedsstaat der Europäischen Union, der den Balkankonflikt scheinbar hinter sich gelassen hat. Obwohl sich mehrere Museumsausstellungen dem 30. Jahrestag der Unabhängigkeit des Landes widmeten, schienen andere Nachrichten wichtiger zu sein. Einige der Ausstellungen betonten die Rolle des derzeitigen rechten Premiermisters Janez Janša im Unabhängigkeitskrieg, während Milan Kučan, ehemaliger Kommunistenführer und erster Präsident des unabhängigen Sloweniens, weitgehend ignoriert wurde.

Bis heute wirft die jüngere Vergangenheit Sloweniens ihren Schatten auf das politische Leben des Landes. Janša war einer der führenden Köpfe des Unabhängigkeitskriegs vor 30 Jahren (dessen Nationalismus der Europäischen Gemeinschaft damals anscheinend akzeptabler erschien). Heute ist er maßgeblicher Vertreter einer populistischen Agenda, die es sich zum Ziel gemacht hat, das öffentliche Geschichtsbild des Landes staatlicher Kontrolle zu unterwerfen. Anfang des Jahres sorgte ein „Non-Paper“ mit dem Vorschlag für Aufsehen, die Grenzen auf dem Balkan neu zu ziehen, um so die politische Instabilität in Bosnien und Kosovo zu „beheben“. Inoffiziell wird dieses Dokument Janša zugeschrieben, der enge Beziehungen mit seinem ungarischen Amtskollegen Viktor Orbán geknüpft hat. Darin liegt eine gewisse Ironie, da Janša zu den zentralen Figuren eines Kriegs gehörte, dessen Auslöser Ende Juni 1991 das Bestreben war, die Grenzen Jugoslawiens neu zu ziehen.

Nach einer Woche in Ljubljana flog ich nach Belgrad, und wiederholte damit meine Reise von 1991. Als ich in Serbien landete, dessen rechtspopulistischer Präsident Aleksandar Vučić – ideologischer Verbündeter sowohl von Janša als auch Orbán – ebenfalls daran arbeitet, ein offizielles Geschichtsnarrativ zu etablieren, fragte ich mich, ob die Regierungen Serbiens und Sloweniens sich heute womöglich näherstehen als vor 30 Jahren, als beide Republiken formal noch immer Teil von Jugoslawien waren.


Dejan Djokić ist Professor für Geschichte am Goldsmiths College, University of London, und Gastprofessor für Südosteuropäische Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sein Projekt „Titos letzte Soldaten“ wird von der British Academy und dem britischen Leverhulme Trust unterstützt.