ZOiS Report 4/2024

Die politische Vielfalt der neuen Migration aus Russland seit Februar 2022

Zusammenfassung

Unterschiedlichen Schätzungen zufolge hat die russische Invasion in der Ukraine im Februar 2022 etwa 800.000 bis 900.000 russische Staatsangehörige veranlasst, ihr Land zu verlassen. Es wurden zwei unterschiedliche Migrationswellen aus Russland festgestellt: die erste im Frühjahr und Sommer 2022, die zweite nach der Ankündigung einer Teilmobilisierung im September 2022. Eine beträchtliche Anzahl russischer Migrant*innen ist seitdem nach Russland zurückgekehrt, und es wird geschätzt, dass 650.000 im Ausland verbleiben.

Dieser Bericht konzentriert sich auf fünf der wichtigsten Zielländer für die neue russische Migration: Armenien, Georgien, die Türkei, Kasachstan und Kirgisistan. Wir haben im Sommer 2023 persönliche Interviews mit rund 4.300 russischen Staatsbürger*innen in den fünf Ländern geführt. Ziel war es, ein klareres Bild von ihren politischen Einstellungen zu erhalten und festzustellen, ob verschiedene Länder bei bestimmten Kategorien von Migrant*innen beliebt sind. Für jedes der fünf Länder können wir eine Korrelation zwischen dem soziodemografischen Profil der Migrant*innen und ihren politischen Ansichten, insbesondere ihrer Haltung zum Krieg Russlands gegen die Ukraine, nachweisen. Dies sind unsere wichtigsten Ergebnisse:

  • Die Migrant*innen, die Russland seit dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine im Jahr 2022 verlassen haben, stellen eine sehr heterogene Gruppe dar – innerhalb und zwischen den Aufnahmeländern dar. Sowohl in ihren Ansichten über die russische Politik und Russlands Krieg gegen die Ukraine als auch in ihrem politischen Verhalten und ihren sozialen Werten unterscheiden sie sich stark. Angesichts dieser Vielfalt erscheint es unwahrscheinlich, dass sich die Migrant*innen auf eine neue, übergreifende Idee von Russ*innen im Ausland einigen werden. Es könnte sich jedoch ein gemeinsames Identitätsgefühl herausbilden, das an bestimmte Orte und Erfahrungen gebunden ist.
  • Verschiedene Länder scheinen bestimmte sozioökonomische Gruppen anzuziehen, mit deutlichen Unterschieden in Bezug auf das Alter, das Bildungsniveau, den Beschäftigungssektor und den vorherigen Wohnsitz in Russland. Unsere Stichproben in Armenien und Georgien erfassen ein jüngeres, hochgebildetes, städtisches Segment mit einer großen Anzahl von Beschäftigten aus dem IT-Sektor. Die Stichproben in Kirgistan und der Türkei sind wesentlich vielfältiger, und die Stichprobe in Kasachstan umfasst Migrant*innen mit niedrigerem Bildungsniveau und einem hohen Anteil an Beschäftigten im Baugewerbe und im Handel.
  • In der Gesamtheit der fünf Länder können die neuen russischen Migrant*innen nicht als eine im Entstehen begriffene Opposition im Exil betrachtet werden. Armenien und Georgien erweisen sich als die Länder in unserer Stichprobe, in denen ein signifikanter Anteil der russischen Migrant*innen angibt, oppositionelle Ansichten und frühere Erfahrungen mit politischer Mobilisierung in Russland zu besitzen. Der gesellschaftliche und politische Kontext in Georgien, wo man Russ*innen mit Misstrauen begegnet, schränkt jedoch ihren Spielraum für lokale oder transnationale politische Aktionen ein. Im Moment scheint diese Atmosphäre eine demobilisierende Wirkung zu haben. Im Gegensatz dazu scheint Armenien derzeit ein günstigeres Umfeld für russlandbezogene politische Aktionen zu sein.
  • Große Teile der russischen Zugewanderten in der Türkei und in Kasachstan stimmen weitgehend mit den vom Kreml propagierten politischen Ideen überein, während die Daten aus Kirgistan auf eine große Vielfalt und das Potenzial für Kritik an der russischen Politik schließen lassen.
  • Russische Migrant*innen sind ein Hauptziel der Propaganda des Kremls, und viele von ihnen sind noch immer in die russische Medienlandschaft eingebettet. Unter diesen Umständen erscheint es ratsam, stärker in alternative russischsprachige Medien zu investieren und Bemühungen zu unterstützen, Verbindungen zwischen Migrant*innen in verschiedenen Ländern zu knüpfen.

 

Authors

Leitung Forschungsschwerpunkt
Jugend und generationeller Wandel
Ombudsperson für die Wissenschaft
Wissenschaftliche Direktorin
Einstein-Professorin für Vergleichende Demokratie- und Autoritarismusforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin