Poesie und Protest. Der „Blutige Januar“ in der zeitgenössischen Dichtung Kasachstans
Summary
Zu Beginn des Jahres 2022 brachen in der gesamten Republik Kasachstan Proteste aus. Anfangs ging es bei den friedlichen Demonstrationen um die gestiegenen Preise von Flüssiggas, später kamen jedoch auch Forderungen nach politischen Reformen hinzu. Nachdem die Proteste von marodierenden Banden gekapert wurden und von den Sicherheitskräften nicht mehr kontrolliert werden konnten, erklärte Kasachstans Präsident Kasym-Dschomart Tokajew den Ausnahmezustand und bat die von Russland dominierte Militärallianz Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) um Hilfe. Innerhalb weniger Tage waren Ruhe und Ordnung wiederhergestellt, allerdings nicht ohne den Einsatz massiver Gewalt.
Als die Internet- und Mobilfunkverbindungen, die während der Proteste tagelang blockiert gewesen waren, wieder zu funktionieren begannen, äußerten sich vielen kasachstanische Autor*innen in den sozialen Medien zu den Geschehnissen. In einer Vielzahl von Gedichten verarbeiten sie die Ereignisse des „Blutigen Januars“. Der vorliegende ZOiS Report bringt eine kleine Auswahl dieser Gedichte erstmals in deutscher Übersetzung und bietet eine Analyse dieser frühen literarischen Auseinandersetzung mit Kasachstans „Blutigem Januar“ an.
Die Ergebnisse legen Folgendes nahe:
- “Der Blutige Januar” war ein starker Impuls für kasachstanische Poet*innen. Zu keinem anderen Zeitpunkt seit der Unabhängigkeit der zentralasiatischen Republik wurden zu einem Thema so viele Texte in so kurzer Zeit geschrieben.
- Viele Gedichte zeichnen ein lebendiges Bild dessen, was während der ersten Tage des Protests geschah. Sie zeigen das allgemeine Fehlen von Information, den Schock und die Orientierungslosigkeit der Menschen, aber auch ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Zu einem Zeitpunkt, zu dem die Medien (hauptsächlich bedingt durch die Pandemie, aber auch wegen der politischen Zensur in Kasachstan) nicht berichteten, was passierte und noch keine Meinungsumfragen durchgeführt worden waren, wurden Gedichte zu einer ersten unzensierten Quelle, um zu verstehen, was die Ereignisse für die Menschen in Kasachstan bedeuteten.
- Eines der zentralen Themen der Gedichte ist der Internet-Lockdown. Kasachstanische Poet*innen zeigen, dass zumindest im urbanen Milieu von Almaty das dadurch hervorgerufene Fehlen an Informationen, und vor allem von Kommunikation, sich auf das Selbstverständnis der Menschen auswirkte. Zudem erlebten viele von ihnen die Blockade als eine drastische Bewusstwerdung der generellen Einschränkungen der politischen Handlungsfähigkeit in ihrem Land.
- Aus den Texten spricht auch der starke Wunsch nach politischer Veränderung. Für eine solche muss es nach Ansicht vieler der Lyriker*innen zu einem Führungswechsel kommen. Ex-Präsident Nasarbajew – nicht namentlich genannt, aber für alle, die sich mit Kasachstan beschäftigen klar erkennbar – wird in einigen Texten harsch kritisiert – etwas, das bislang in der ansonsten relativ freien Literaturszene Kasachstans ein absolutes Tabu war. Die Kritik, die gegenwärtig in literarischer Form geäußert wird, deutet darauf hin, dass Kasachstans Dichter*innen der Ansicht sind, dass sich in ihrem Land tatsächlich ein grundlegender Wandel vollzieht.
- Trotz des erkennbaren Verlangens nach einem Wandel in der Politik, formulieren die kasachstanischen Autor*innen in ihren Gedichten keine konkreten politischen Programme. Ihre Gedichte mögen politisch sein, dadurch werden Dichter*innen aber noch nicht zu Politiker*innen.
Die Gedichte zeigen zudem, dass sich seit 1991 in Kasachstan eine lebendige literarische Szene entwickelt hat. Diese Entwicklung könnte leicht unterstützt und gestärkt werden: Zum einen durch direkte Kulturförderung, zum Beispiel indem Lesungen, Stipendien und Übersetzungsworkshops in Kasachstan finanziert werden, zum anderen, indem kasachstanische Autor*innen auch im Ausland verlegt werden. Das würde ihnen nicht nur ein neues, internationales Publikum eröffnen, sondern ihre Stimmen auch in Kasachstan stärken.