Russian Migrants in Georgia and Germany: Activism in the Context of Russia’s War against Ukraine
Russische Migrant*innen in Georgien und Deutschland: Aktivismus im Kontext von Russlands Krieg gegen die Ukraine
Deutsche Zusammenfassung (übersetzt aus dem Englischen)
Russlands Krieg gegen die Ukraine hat Millionen von Ukrainer*innen entwurzelt. Viele sind ins Ausland geflohen, andere haben innerhalb der Ukraine Schutz gesucht. Der Krieg hat auch eine neue Migrationswelle aus Russland ausgelöst. Nach dem 24. Februar 2022 und nach der Ankündigung einer „Teilmobilmachung“ im September 2022 verließen hunderttausende russische Bürger*innen ihre Heimat in Richtung Ausland, vor allem in die ehemaligen Sowjetrepubliken im Südkaukasus und Zentralasien und in europäische Länder. Nicht alle sind politisch aktiv, eine Minderheit unter ihnen besitzt jedoch langjährige Erfahrung im unabhängigen zivilen und politischen Aktivismus. Sie betrachten die Auswanderung als eine Chance, den Repressionen in Russland zu entgehen und ihre regierungskritischen Aktivitäten aus der Ferne fortzusetzen. Andere, die wenig oder keine aktivistische Erfahrung besitzen, sind als Reaktion auf den Krieg mobilisiert worden. In Ländern mit bestehenden russischen und russischsprachigen Communitys schließlich haben sich auch Teile dieser Bevölkerungsgruppen in humanitären oder Antikriegsinitiativen engagiert.
Der vorliegende Report analysiert wie politisch und sozial engagierte Migrant*innen aus Russland sich in einer kritischen Zeit (re)organisieren. Er konzentriert sich dabei auf Georgien und Deutschland als zwei wichtige Zielländer für diese Migrationsbewegung. Obwohl beide Länder Einwanderung unterschiedlich regeln und sich die Aufnahmezahlen und die Einstellungen gegenüber den Neuankömmlingen unterscheiden, lassen sich im Hinblick auf migrantischen Aktivismus in Georgien und Deutschland mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede feststellen. Basierend auf Tiefeninterviews mit russischen Migrant*innen und Expert*innen, untersuchen wir eine Vielfalt an Graswurzelprojekten, wobei der Schwerpunkt auf Antikriegs- und verbundenen Aktionsfelder liegt.
Viele Beobachter*innen, aber auch Aktivist*innen selbst, fragen sich in erster Linie, in welchem Maß Aktivist*innen vom Ausland aus Einfluss auf die Ereignisse in Russland nehmen können. Doch auch wenn das politische und zivile Engagement von den Entwicklungen in Russland motiviert wird, bleibt es nicht allein auf das Heimatland gerichtet. Wir nehmen vier der Zielgruppen, an die sich die Aktivist*innen richten, genauer in den Blick: 1) Zivilgesellschaft und allgemeine Bevölkerung in Russland; 2) Aufnahmegesellschaften (Deutschland oder Georgien) und ihre Institutionen; 3) russische Migrant*innen und deren Netzwerke in den jeweiligen Aufnahmeländern und 4) ukrainische Geflüchtete und Ukrainer*innen in der Ukraine. Diese qualitative Untersuchung beleuchtet damit weniger sichtbare, dezentralisierte Formen des migrantischen Aktivismus und dessen mögliche Auswirkungen in einem transnationalen Kontext.
Die wichtigsten Ergebnisse lauten:
- Die Migrant*innen bleiben eng mit den Entwicklungen in ihrem Herkunftsland verbunden, richten sich mit ihren Aktivitäten aber an verschiedene Gruppen in verschiedenen Ländern und Kontexten. Daraus, dass Aktivistinnen und Initiativen sich an verschiedene Gruppen wenden, können sich manchmal Spannungen entwickeln.
- Vor dem Hintergrund von Krieg und Zensur ist es eine besondere Herausforderung, ein Publikum in Russland zu erreichen, nicht nur für Aktivist*innen im Land, sondern auch für diejenigen im Ausland. Dieses Engagement deckt ein breites Spektrum von Aktivitäten ab. Sie reichen von der Verbreitung unabhängiger Informationen bis zur Solidarität mit in Russland verbleibenden zivilgesellschaftlichen Akteur*innen. Aktivismus umfasst auch die Hilfestellung bei Rechtsfragen, psychologische Unterstützung und praktische Hilfsmittel für die Ausreise für jene, die dem politischen Regime kritisch gegenüberstehen und, oft zusammen mit ihren Familien, das Land verlassen wollen oder müssen.
- Wie sich russische migrantische Aktivist*innen jeweils auf ihr potentielles Publikum in der Aufnahmegesellschaft beziehen, unterscheidet sich merklich. In Georgien haben sie wenig Kontakt mit der georgischen Gesellschaft und ihren zivilgesellschaftlichen Organisationen. Sie sind sich bewusst, dass ihre Anwesenheit im Land mit imperialen russischen Verhaltensweisen in Verbindung gebracht werden kann. Die derzeitige georgische Debatte um Visabeschränkungen für russische Bürger*innen und eine generell zurückhaltende Einstellung gegenüber Neuankömmlingen könnte den Umfang des migrantischen Engagements zukünftig begrenzen und die Migrant*innen in ihrem Zweifel an einer dauerhaften Perspektive für sich in Georgien bestätigen.
- In Deutschland ist die Situation anders, was zum Teil auf das Engagement etablierter russischer Migrant*innen im Aktivismus gegen den Krieg und für demokratischen Wandel in Russland zurückzuführen ist, zum Teil aber auch auf einen anderen Charakter der kriegsbedingten Migration in Deutschland. Im Vergleich zu ihren Pendants in Georgien engagieren sich russische Migranteninitiativen in Deutschland stärker bei „lokalen“ Zielgruppen. Ihre Interaktionen mit der lokalen Zivilgesellschaft und politischen Akteuren sind vielfältiger. Sie stellen konkrete Forderungen an die deutsche Politik, fordern Unterstützung für die Ukraine, Solidarität mit der Zivilgesellschaft in Russland und eine eindeutige Distanzierung vom russischen Staat. Außerdem schätzen Regimekritiker*innen die Versammlungsfreiheit und andere günstige Bedingungen für politisches Engagement in Deutschland. Eine weitere Konfliktquelle ist die zeitweise Pro-Kriegsmobilisierung anderer russischsprachiger Migrant*innengruppen.
- In beiden Ländern haben Aktivist*innen das Ziel, Neuankömmlinge aus Russland zu unterstützen, politisch engagierte Communitys aufzubauen und lokale und transnationale Netzwerke für zivilgesellschaftliches und politisches Engagement zu bilden. Der Aufbau von Communitys hat in diesem Zusammenhang sowohl eine humanitäre als auch eine politische Dimension: Die Aktivist*innen versuchen ihrer Kritik eine stärkere Sichtbarkeit zu verschaffen. Ihr Ziel ist es, der sozialen und politischen Isolation entgegenzuwirken und jene zu politischem Engagement zu ermutigen, die zuvor eher unpolitisch waren. Letzteres hat sich jedoch als schwieriger erwiesen als erhofft.
- Neuankömmlinge zu unterstützen, wird in Deutschland unter Aktivist*innen in den etablierteren Communitys als ein Weg betrachtet, die prodemokratische russische Diaspora zu stärken. Nichtsdestotrotz gibt es zwischen den neueren politischen Migrant*innen und den Aktivist*innen, die schon länger in Deutschland leben, auch Diskrepanzen hinsichtlich des sozialen und kulturellen Kapitals. Für die Zusammenarbeit und Integration in existierende Initiativen ist dies eine Herausforderung.
- Informelle soziale Treffpunkte und praktische Hilfestellung für Migrant*innen bereitzustellen, steht bei den Initiativen in Georgien im Vordergrund, denn es ermutigt dazu, sich miteinander zu vernetzen und stärkt das gegenseitige Vertrauen zwischen den verschiedenen Gruppen.
- Die humanitäre Hilfe für Ukrainer*innen, einschließlich Geflüchteten und Binnenvertriebenen, ist zu einem wichtigen Feld des Engagements russischer Migrant*innen geworden. Hier ist eine direkte Interaktion mit Ukrainer*innen noch bis zu einem gewissen Grad möglich, während die Zusammenarbeit im politischen Bereich weitaus problematischer ist.
- Die Migration ist für russische Staatsbürger*innen in Deutschland weit weniger restriktiv geregelt als in einigen anderen europäischen Ländern, aber restriktiver als in Georgien. Dies hat den Charakter und das Ausmaß der russischen Migration, die durch den Krieg ausgelöst wurde, geprägt. Es hat außerdem dazu geführt, dass die Lobbyarbeit für eine humanitäre Lösung, die den von Repression bedrohten Menschen Vorrang einräumt, zu einem wichtigen Betätigungsfeld für russische Migrantennetzwerke geworden ist.