Russians in the South Caucasus: Political Attitudes and the War in Ukraine
Russ*innen im Südkaukasus: Politische Einstellungen und der Krieg in der Ukraine
Zusammenfassung (Summary)
Nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die gesamte Ukraine im Februar 2022 beschlossen zahlreiche Russ*innen, ihr Land zu verlassen. Georgien und Armenien gehörten zu den beliebtesten Zielen russischer Migrant*innen, entweder als vorübergehender Zwischenstopp oder für einen längerfristigen Aufenthalt. Junge Stadtbewohner*innen mit höherer Bildung sind in dieser Welle der Migration überproportional vertreten, was erhebliche Auswirkungen auf den russischen Arbeitsmarkt hat. Die politischen Folgen der damit verbundenen demografischen Veränderungen bleiben ungewiss – einerseits hat das russische Regime einige seiner lautstärksten Kritiker*innen exiliert, andererseits könnte das vergleichsweise liberale Umfeld in den Gastländern den Exilant*innen die Möglichkeit verschaffen, sich untereinander zu vernetzen und das Putin-Regime vor eine Herausforderung zu stellen.
Sowohl Armenien als auch Georgien sind für Menschen, die aus Russland zuwandern, leicht zugänglich. Sie können sich dort de facto unbefristet aufhalten. Nichtsdestotrotz unterscheiden sich die Bedingungen für die russischen Neuankömmlinge in diesen Ländern erheblich. Armenien steht Russland gesellschaftlich und politisch weiterhin näher, während in Georgien öffentliche Kritik an der russischen Regierung und der russischen Gesellschaft deutlicher spürbar ist.
Wir haben Ende 2022 in beiden Ländern eine persönliche Umfrage unter insgesamt mehr als 1.600 Befragten durchgeführt. Obwohl unsere Stichprobe nicht zufällig ist und daher nicht die Erfahrungen und Einstellungen der Gesamtheit aller russischen Neuzugewanderten in Armenien und Georgien repräsentiert, lassen unsere Ergebnisse wichtige Muster sowohl innerhalb beider Länder als auch länderübergreifend erkennen. Die wesentlichen Erkenntnisse sind die folgenden:
- Junge Befragte aus Städten dominieren die Stichprobe, Personen aus Moskau und Sankt Petersburg sind besonders stark repräsentiert.
- Die Hälfte unserer Stichproben in beiden Ländern hat noch nicht entschieden, für wie lange sie Russland verlässt. Das deutet auf die tiefgehende Unsicherheit hin, mit der diese Bevölkerungsgruppe konfrontiert ist. Allerdings ist der Anteil derer, die für sich eine langfristige Zukunft außerhalb Russlands sehen, in Armenien deutlich höher als in Georgien: 20 % der in Armenien befragten Russ*innen geben an, Russland für immer verlassen zu haben, während nur 12 % der in Georgien Befragten dasselbe sagen. In Übereinstimmung mit ihrem Gefühl einer dauerhaften Abkehr von Russland geben die Befragten in Armenien häufiger an, dass sie sich nicht mehr für die politische Zukunft Russlands verantwortlich fühlen (27 %), während dies nur 19 % der Befragten in Georgien empfinden.
- Die Anpassung an das Gastland kann eine extreme Herausforderung sein. Die Befragten gaben häufig an, sowohl materielle als auch psychologische Schwierigkeiten erlebt zu haben, wie zum Beispiel Probleme bei der Suche nach einer Wohnung oder Arbeit.
- Die in Armenien interviewten Russ*innen waren vor ihrer Auswanderung politisch aktiver, sowohl was den Nachrichtenkonsum als auch was die Teilnahme an politischen oder bürgerschaftlichen Aktivitäten betrifft, wie etwa ehrenamtliches Engagement, Spenden an Nichtregierungsorganisationen oder das Organisieren von Kulturveranstaltungen. Befragte in Armenien berichteten ebenfalls häufiger, an Protestveranstaltungen gegen den Krieg in der Ukraine teilgenommen zu haben, während sie noch in Russland lebten (25 % in Armenien gegenüber 11 % in Georgien).
- Das Ausmaß des politischen Aktivismus im Gastland ist bei unserer Stichprobe in Armenien deutlich höher. Die Russ*innen, die wir in Armenien interviewten, diskutieren häufiger mit Freund*innen und Familienmitgliedern über Politik, ebenso konsumieren sie häufiger Nachrichten im Internet und beteiligen sich häufiger an politischen Diskussionen in den sozialen Medien als die Befragten in Georgien. Sie knüpften außerdem festere Verbindungen zu anderen Migrant*innen aus Russland. Allerdings engagieren sich die Befragten in beiden Ländern nur selten ehrenamtlich oder nehmen an Protesten teil, die nicht mit dem Krieg in der Ukraine zusammenhängen.
- Die Ansichten der Migrant*innen zu russischen Institutionen sind ausgesprochen negativ, insbesondere bei den Befragten in Armenien. Im Gegensatz dazu bewerteten etwa 66 % der Befragten in Armenien den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj positiv, aber nur 46 % in Georgien. Ihre Einstellungen zur NATO, zur EU und zu westlichen Medien sind ebenfalls größtenteils positiv.
- Die Befragten schreiben die Verantwortung für den Krieg eindeutig den russischen Behörden zu. In Armenien geben drei Viertel der Befragten den russischen Behörden die Schuld, in Georgien liegt der Anteil bei fast zwei Drittel. Die Befragten in Georgien verfolgen den weiteren Verlauf des Krieges genauer: Mehr als die Hälfte gab an, den Krieg „sehr genau“ zu verfolgen, verglichen mit etwas mehr als 40 % in Armenien.
- Russische Migrant*innen in Georgien und Armenien haben im Vergleich zur russischen Gesamtbevölkerung wesentlich liberalere gesellschaftliche Einstellungen. Dieser Unterschied ist besonders im Hinblick auf die Toleranz gleichgeschlechtlicher Beziehungen ausgeprägt.
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Das Projekt wurde mit finanzieller Unterstützung der Friedrich-Ebert-Stiftung, des Harvard Ukrainian Research Institute (HURI), des Davis Centre for Russian and Eurasian Studies in Harvard und des Minda de Gunzburg Centre for European Studies in Harvard umgesetzt.