25 Jahre Russische Verfassung
Als das russische Volk am 12. Dezember 1993 in einem Referendum mit einer Mehrheit von 58,4 Prozent der Wähler*innen für die Annahme einer neuen Verfassung stimmte, schlug es damit eine völlig neue Seite in der russischen Verfassungsgeschichte auf. Die wenige Tage später in Kraft getretene Verfassung löste die der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) von 1978 ab, die - obgleich zwischen 1989 und 1992 elfmal geändert – immer noch eine Staatsordnung aus der Sowjetunion war.[1]
Die neue Verfassung der Russischen Föderation ist die erste auf russischem Boden, die diesen Namen auch verdient und nicht überwiegend deklaratorischen Charakter hat. In ihrem ersten Kapitel, das den Grundlagen der Staatsordnung gewidmet ist, führt sie rechtliche Institutionen auf, die konstituierend für einen demokratischen Rechtsstaat sind. Dazu gehören neben anderen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie (Art. 1 Abs. 1), Grundrechte (Art. 2), Gewaltenteilung (Art. 10) sowie der Vorrang der Verfassung (Art. 15). Allein diese Institutionen stellen eine grundlegende Abkehr vom sozialistischen Verfassungsrecht dar. An die Stelle der sozialistischen Gesetzlichkeit tritt die Rechtsstaatlichkeit, das heißt, die demokratische Verfasstheit schiebt die in Räten (Sowjets) gebündelte behauptete Volksmacht beiseite – tatsächlich lag die Macht einzig in den Händen der Kommunistischen Partei. Die Grundrechte, die vielfach schon ihrem Wortlaut nach Abwehrrechte gegenüber dem Staat sind, haben nichts mit den Grundrechten in der Sowjetunion gemein, deren Wahrnehmung durch die Bürger*innen die Interessen der Gesellschaft und des Staates nicht verletzen durfte [1]. Die rechtsstaatlich unabdingbare Gewaltenteilung ersetzt das sowjetische Staatsprinzip der Gewalteneinheit. Mit der Statuierung des Vorrangs der Verfassung – eines im Verfassungsrecht eigentlich selbstverständlichen Grundsatzes – schiebt man der sowjetischen Unart verfassungsändernder untergesetzlicher Rechtsakte – in Form von Ukazen des Präsidiums des Obersten Sowjets – einen Riegel vor.
Neue Ära mit Geburtsmakel
Man kann also mit Fug und Recht von einer neuen Ära sprechen. Dies erscheint erstaunlich, wenn man sich die politische Konstellation des Jahres 1993 vor Augen führt, die von einem Machtkampf zwischen Präsident Boris Jelzin und dem Volkskongress geprägt war. Im Verlauf der Auseinandersetzung zwischen Legislative und Exekutive löste Jelzin den Volkskongress auf, dessen Verfassungskommission ganz wesentlich an der Ausarbeitung der neuen Verfassung mitgewirkt und einen Entwurf vorgelegt hatte. Stattdessen legte Jelzin einen eigenen Entwurf vor, der im Gegensatz zu dem die Legislative stärkenden Entwurf des Volkskongresses einen mit umfassenden Kompetenzen ausgestatten Präsidenten vorsah.
Eine von Jelzin nach seinem staatsstreichartigen Sieg über den Volkskongress einberufene Verfassungsversammlung führte die beiden Entwürfe zusammen, wobei sich der Präsidialentwurf in wesentlichen Punkten durchsetzte. Einige davon erwiesen sich als Geburtsfehler der neuen Verfassung.
Die Verfassung in der Rechtswirklichkeit
Wirft man einen Blick darauf, wie sich die Verfassung in der Realität bewährt hat, so zeigt sich ein Bild mit viel Licht aber auch Schatten. Hervorzuheben ist zunächst die Aufwertung der Judikative. In der neuen Verfassung ist das Verfassungsgericht erstmals als originäres Verfassungsorgan genannt (Art. 125). Daneben ist das Oberste Gericht (OG) als föderales der ordentlichen Gerichtsbarkeit aufgeführt (Art. 126). Ursprünglich sah die Verfassung auch eine eigene Wirtschaftsgerichtsbarkeit mit einem Obersten Wirtschaftsgericht (OWG) an der Spitze vor (Art. 127). Mit Verfassungsänderung vom 5. Februar 2014 wurden die Wirtschaftsstreitigkeiten jedoch dem OG übertragen und das OWG abgeschafft. Begründet wurde diese viel kritisierte Entscheidung mit der Vermeidung von Kompetenzstreitigkeiten und Verweisungen zwischen ordentlicher und Wirtschaftsgerichtsbarkeit. Tatsächlich war aber wohl die sehr liberale und progressive Rechtsprechung des OWG insbesondere der Regierung und dem Präsidenten ein Dorn im Auge.
Ergänzend zu Gerichtsaufbau und Garantien der richterlichen und gerichtlichen Unabhängigkeit (Art. 120-122, 124) sieht die Verfassung in ihrem Kapitel zu den Grundrechten einen umfangreichen Individualrechtsschutz vor (Art. 46-54). Dieser wird durch die sehr konsistente Rechtsprechung des Verfassungsgerichtes weiter ausgekleidet. Zu bedauern ist demgegenüber, dass man im 7. Kapitel der Verfassung darauf verzichtet hat, die für den Rechtsschutz der Bürger*innen gegen staatliches Handeln so wichtige Verwaltungsgerichtsbarkeit als eigenständigen Gerichtszweig einzurichten. Stattdessen werden verwaltungsrechtliche Fragen von den ordentlichen Gerichten mitverhandelt – wenn auch seit drei Jahren mit einer eigenen Verfahrensordnung.
Gem. Art. 5 der Verfassung ist Russland eine Föderation mit Republiken, Regionen, Gebieten, Städten von föderaler Bedeutung, einem autonomen Gebiet und autonomen Bezirken als gleichberechtigten Subjekten (Art. 5 Abs. 1, vgl. die – verfassungsrechtlich ungewöhnliche – namentliche Aufführung der Subjekte in Art. 65). Zugleich werden lediglich die unter ethnischen Gesichtspunkten historisch gebildeten Republiken als Staaten bezeichnet, die eine eigene Verfassung haben, allen anderen Subjekten werden lediglich Statuten zugebilligt (Art. 5 Abs. 2), was die historisch angelegte asymmetrische Ausrichtung des Föderalismus fortsetzt. Bedenklich stimmt das nahezu vollständige Fehlen einer Finanzverfassung, die den Subjekten eine gewisse finanzielle Autonomie gewähren würde. Die beiden einzigen das Steuersystem betreffenden Artikel (Art. 72 Abs. 1 lit. i und Art. 75 Abs. 3) widersprechen sich dazu auch noch zum Teil. Darin liegt einer der erwähnten Geburtsfehler der Verfassung.
Ein weiterer Geburtsfehler ist die überragende Stellung des Präsidenten im (oder über dem) Gefüge der Staatsorgane. Als Garant der Verfassung (Art. 80 Abs. 2) verfügt er über umfassende Kompetenzen (Art. 83-90) in nahezu allen Bereichen der drei Staatsgewalten, insbesondere aber gegenüber der Legislative (Art. 84) und in der Exekutive (Art. 83 lit. a-c, u.a.). Diese Machtfülle ist auch nicht durch die auf Wahlen beruhende unmittelbare Legitimation des Präsidenten zu rechtfertigen – stellt sie doch eine bedeutende Gefahr für die wichtigste Gewähr von Freiheit und Menschenrechten dar, nämlich die Gewaltenteilung. Beklagt man heute die übermächtige Stellung des russischen Präsidenten, so sei darauf verwiesen, dass diese in der Verfassung angelegt ist. Der derzeitige Amtsinhaber tut freilich ein Übriges dazu, um diese Vormachtstellung systematisch auszubauen.
Beschneidung der Grundrechte
Und auch die mit den Buchstaben der Verfassung großzügig gewährten Grundrechte werden in vielen Bereichen durch die einfachen Gesetze und in der Rechtsanwendung ausgehöhlt. Besonders deutlich zeigt sich dies an der Versammlungsfreiheit, Art. 31. Dieses Grundrecht, das für einen demokratischen Rechtsstaat von überragender Bedeutung ist, wird durch das Versammlungsgesetz nach seiner Novellierung im Juni 2012 – eine Reaktion auf die Massenproteste gegen die Wahlfälschungen bei den Duma- und Präsidentenwahlen 2011 und 2012 und die Arabische Revolution – de facto nihiliert. So verlangt das Gesetz seinem Wortlaut nach zwar lediglich die Anmeldung einer Versammlung. Es verknüpft diese und die Durchführung der Versammlung jedoch mit peniblen Verfahrensvorschriften und Informationspflichten hinsichtlich Zeit, Ort und Teilnehmerzahl und ermöglicht auch eine behördliche Zuweisung eines alternativen Ortes. Da jeder Verstoß gegen die Vorschriften zu einem Verbot und gegebenenfalls der Auflösung der Versammlung – verbunden mit hohen Bußgeldern für die Veranstalter führt, kann man sagen, dass damit der sowjetische Grundsatz, dass alles verboten ist, was nicht ausdrücklich erlaubt ist, fröhliche Urstände feiert.[2] Diese repressive Handhabung des Versammlungsrechts wird im Übrigen durch das russische Verfassungsgericht – in Verkennung des hohen Gutes der Versammlungsfreiheit – mitgetragen.
Ein düsteres Bild zeichnet auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR). Hier werden erhebliche Grundrechtsverletzungen durch russische Staatsorgane gerügt. Auch wenn die russische Verfassung den Zugang zu dem Gericht garantiert, Art. 46 Abs. 3, und damit die Tür nach Straßburg öffnet, so bleibt doch festzuhalten, dass Russland die Statistik der durch den EGMR gerügten Grundrechtsverletzungen seit Jahren anführt.
Christian Schaich ist Rechtswissenschaftler und administrativer Geschäftsführer des ZOiS. Er promovierte zu einem Thema des russischen Verwaltungsrechts an der Humboldt-Universität zu Berlin.
[1] Siehe zur Verfassung der Sowjetunion von 1977 – auch Breschnew-Verfassung genannt – das nach wie vor sehr lesenswerte Handbuch der Sowjetverfassung, herausgegeben von Martin Fincke, Berlin 1983.
[2] S. Baller, Art. 31 Rz 12ff in Wieser (Hrsg.), Handbuch der russischen Verfassung.