ZOiS Spotlight 10/2018

Die NATO-Luftangriffe in Serbiens Gedenkpolitik

Von Elisa Satjukow 21.03.2018
Das durch die NATO-Luftangriffe zerstörte Gebäude des Verteidigungsministeriums in Belgrad, Serbien. Bestalex/Wikimedia Commons

Am Abend des 24. März 1999 begannen die NATO-Luftangriffe auf die Bundesrepublik Jugoslawien und damit der erste Kampfeinsatz der Bundeswehr seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Frage der Legitimität einer ‚humanitären Intervention’ im Kosovokrieg führte nicht nur in Deutschland zu polarisierenden Debatten zwischen Kriegsgegner*innen und Kriegsbefürworter*innen. Tausende demonstrierten auf den Straßen von Washington bis Madrid für ein Ende der Militärschläge. Betrachtet man die derzeit in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union geführten Debatten um einen EU- und NATO-Beitritt Serbiens, erscheint die Bombardierung nur noch als historische Fußnote. Anders stellt sich die Situation in Serbien dar: Seit fast zwei Jahrzehnten wird dort am 24. März jeden Jahres an die Luftangriffe erinnert. Die Gedenkveranstaltungen betonen die serbischen „Opfer der NATO-Aggression und albanischen UÇK-Terroristen“. Über die eigene (Mit-)Täterschaft im Kosovokrieg wird geschwiegen, auch die kosovo-albanischen Opfer finden keine Erwähnung. Mit der Ministerpräsidentschaft Aleksandar Vučićs im Jahr 2014 kehrte schließlich nicht nur eine prominente Figur der Milošević-Ära auf die politische Bühne zurück, sondern auch die Sprache und performative Erinnerungspraxis jener Zeit.

Der Krieg in Kosovo und das Eingreifen der NATO

Als die NATO im Frühjahr 1999 die ‚Operation Allied Force’ ohne ein Mandat des UN-Sicherheitsrats begann, war diesem militärischen Einsatz ein Jahrzehnt der gewaltsamen Konflikte in Jugoslawien vorausgegangen. Kosovo spielte darin eine Schlüsselrolle. Die Zuschreibung der mehrheitlich albanisch besiedelten Provinz als „Wiege des Serbentums“ geriet seit den 1980er Jahren zum Ausgangspunkt eines erstarkenden Nationalismus in Serbien, der nicht nur den ideellen Boden für ethnische Säuberungen in den vorangegangen Kriegen in Kroatien und Bosnien bereitete, sondern auch eine systematische gewaltsame Unterdrückung der albanischen Bevölkerung in Kosovo nach sich zog. Die albanische Bevölkerung reagierte darauf zunächst mit friedlichen Widerstand unter der Führung Ibrahim Rugovas. Ab Mitte der neunziger Jahre formierte sich die UÇK zu einem militärischen ‚Befreiungskampf’ gegen die serbische Führung. Bis zum Herbst 1998 befanden sich eine halbe Million Kosovo-Albaner*innen auf der Flucht vor dem Krieg. Als die diplomatischen Bemühungen der Internationalen Gemeinschaft keine Erfolge zeitigten, begann die NATO mit der Bombardierung der Bundesrepublik Jugoslawien. Was als kurze ‚Intervention’ geplant war mit dem Ziel, die Bevölkerung gegen den serbischen Machthaber Slobodan Milošević zu mobilisieren und somit den Rückzug serbischer Truppen aus Kosovo zu erzwingen, entwickelte sich zu einem 78-tägigen Luftkrieg. Und mehr noch: Statt einen Waffenstillstand zu schließen, mobilisierte Milošević alle vorhandenen militärischen Kräfte zum ‚Verteidigungskampf’. Die größte humanitäre Katastrophe im Europa des ausgehenden 20. Jahrhunderts war die Folge. Serbische Streitkräfte und Paramilitärs vertrieben hunderttausende kosovo-albanische Zivilist*innen, tausende wurden ermordet. Das Ende des Militäreinsatzes am 10. Juni 1999 und die Einsetzung einer UN-Übergangsverwaltung in Kosovo bedeuteten allerdings mitnichten das Ende der Gewalt. Vielmehr folgte nun ein Rachefeldzug gegen die serbische Bevölkerung des Kosovo. Wieder flohen Menschen. Noch immer müssen die Kosovo-Truppen der NATO ethnische Konflikte in der Region eindämmen. Kosovos Unabhängigkeitserklärung vom 17. Februar 2008 wird von Serbien bis heute nicht anerkannt.

‚David gegen Goliath’: ein serbisches Erinnerungsnarrativ

Der von der Milošević-Regierung am 25. März 1999 ausgerufene Kriegszustand stellte eine Zäsur dar: Die NATO-Bomben verlagerten die Jugoslawienkriege nun auf serbisches Territorium. Milošević versuchte diesen Umstand für die eigenen Ziele zu nutzen. Eine stilisierte Zielscheibe mit der Aufschrift ‚TARGET’ wurde zum prägnanten Symbol des serbischen ‚Widerstandskampfes’ gegen die ‚NATO-Aggression’. Es war die Geschichte Davids gegen Goliath, des kleinen Serbiens gegen die machtvolle NATO, die zum serbischen Meisternarrativ der Bombardierung avancierte. Dies änderte sich erst mit dem Sturz Miloševićs. In den folgenden Jahren, die unter der Prämisse der EU-Annäherung standen, verschwanden die NATO-Anschläge immer mehr aus der öffentlichen Wahrnehmung. Die staatliche Erinnerungspraxis reduzierte sich fortan auf Kranzniederlegungen an lokalen Gedenkorten. Mit dem 16. Jahrestag 2015 erlebte das öffentliche Gedenken an die NATO-Bombardierung eine erneute Renaissance. Vor der ausgeleuchteten Ruine des ausgebombten Verteidigungsministeriums in Belgrad erinnerten Sirenenklänge und Videoaufnahmen der Bombardierung das Publikum vor Ort und vor den Fernsehern an die Luftschläge. Alexander Vučić, der bereits unter Milošević Informationsminister war und 2014 als Ministerpräsident auf die politische Bühne zurückkehrte, beschwor die neue alte Stärke des Landes: „78 Tage lang hat Serbien der Welt gezeigt, wie dickköpfig es sein kann und wie tapfer.“ Erneut rückte die ‚heldenhafte Verteidigung’ gegen den Westen in den Vordergrund des staatlichen Gedenkens: „Ihr habt uns getötet, ihr habt unsere Kinder getötet, aber Serbien habt ihr nicht getötet, denn Serbien kann niemand töten”, erklärte Vučić während der Gedenkveranstaltung im darauffolgenden Jahr 2016. Wieder widmete sich das Gedenken ausschließlich den serbischen Opfern. Vergessen könne man niemals, so Vučićs Botschaft, aber doch vergeben. Unter dem Hashtag #24mart fand diese Botschaft auch über die sozialen Medien ihre Verbreitung.

Politische Erbschaften

In dem jährlichen Gedenktag zur NATO-Bombardierung zeigt sich eine rhetorische und performative Gedenkpraxis, die in vielerlei Hinsicht an die Milošević-Zeit anschließt – und sich gleichzeitig davon abgrenzt: Die Rückkehr zu national-patriotischen Erinnerungsnarrativen unter Vučić geht einher mit einem politischen Pragmatismus, der nicht nur auf eine Zukunft in der Europäischen Union sondern gleichzeitig auf starke Beziehungen zu Russland setzt. Eine Politik, die Vučić auch in seiner Gedenkrede 2016 deutlich zum Ausdruck brachte: Serbien habe „starke Freunde im Osten und ernste Partner im Westen”. Die gedenkpolitische Inszenierung der NATO-Bombardierung nimmt eine Schlüsselrolle ein, bedient sie doch gleichermaßen national-patriotische (Res-) Sentiments in der Bevölkerung wie auch eine pragmatische ausgerichtete Interessenspolitik. Doch nicht nur tradierte Opfernarrative bahnen sich ihren Weg zurück in die Politik, auch die starken Gegenstimmen versammeln sich wieder. So kam es nach Vučićs Sieg bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen April zu Massenprotesten gegen ein, wie der Grazer Balkanexperte Florian Bieber mit Blick auf die eingeschränkte Medienfreiheit und eine schwache Opposition konstatiert, „zunehmend autoritäres System“. Auf den Plakaten der Demonstrierenden war zu lesen: „Gotov je” („Er ist fertig”) – eine Anspielung auf die Protestkampagne der Otpor!-Bewegung, die im Oktober 2000 zum Sturz Slobodan Milošević geführt hatte.


Elisa Satjukow ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Ost- und Südosteuropäische Geschichte der Universität Leipzig.