Nachbarschaftliche Umerziehung: die kasachische Minderheit in China
Anfang August wurde die ethnisch-kasachische chinesische Staatsbürgerin Sairagul Sauytbay, die wegen illegaler Grenzüberquerung bei der Flucht aus China nach Kasachstan festgenommen wurde, auf Bewährung freigelassen. Im Laufe des Prozesses in Kasachstan hatte sie über sogenannte Umerziehungslager in der westlichen chinesischen Provinz Xinjiang berichtet, in denen tausende ethnische Kasach*innen und andere Muslim*innen festgehalten und politisch indoktriniert werden. Bereits 2017 wurde die Frage der Unterdrückung der kasachischen Diaspora in China im kasachischen Parlament diskutiert. Schritte gegen die „antiterroristischen und -separatistischen“ Maßnahmen des großen Nachbarstaats folgten jedoch nicht.
Xinjiang bedeutet auf Chinesisch „neue Grenze“ – und der Name ist nicht zufällig gewählt. Die Provinz im Nordwesten Chinas bildet nicht nur eine Demarkationslinie zwischen China und Zentralasien, sondern auch eine gefühlte Grenze zwischen der chinesischen Bevölkerung und den „Anderen“. Überwiegend von muslimischen Turkvölkern bewohnt, gilt Xinjiang als eine Problemregion für China. Hauptreligion in der größten chinesischen Provinz ist der Islam. Die Mehrheit der über 11 Millionen Einwohner bildet die ethnisch-religiöse Volksgruppe der Uiguren.
Gegen das Verschwimmen der Grenze zwischen China und Zentralasien, zwischen Kommunistischer Partei und Islam, wurden in der „Problemregion“ diskriminierende Regelungen eingeführt. Doch diese Maßnahmen betreffen nicht nur die uigurische Bevölkerung, sondern auch die über eineinhalb Millionen muslimischen Kasach*innen, die noch während der sowjetischen Kollektivierung in den 1930er Jahren in das ursprüngliche Ostturkestan emigrierten und nach der Gründung der Volksrepublik China die chinesische Staatsbürgerschaft erhielten.
Das soziale Re-Engineering in Xinjiang
Für die Kommunistische Partei ist die ethnisch-religiöse Identität der Einwohner*innen in Xinjiang unmittelbar mit einer vermuteten Staatsfeindlichkeit verbunden, der sie einschneidende Sicherheitsmaßnahmen entgegensetzt. Mit der regionalen Machtübernahme von Chen Quanguo im August 2016, der den Ruf einer „harten Hand“ als Parteisekretär Tibets erworben hatte, wurde die Praxis der sozialen Kontrolle fortgesetzt und die Situation eskalierte. Im Namen der sozialen Kontrolle existiert jetzt für Xinjiang ein Ranking-System, das Menschen nach ethnischer Zugehörigkeit und individuellen Gebetsgewohnheiten kategorisiert und in politische Risikogruppen einteilt. Dieses soziale Re-Engineering der Region mit Hilfe von Big Data zielt auf die Festigung der sozialistischen Werte und auf eine zwangsläufige ethnische Assimilierung.
Viele Kasach*innen in Xinjiang pflegen enge Kontakte zu Verwandten in Kasachstan, sprechen die kasachische Sprache und sind muslimisch. Doch da die chinesischen Behörden sie regelmäßig an der Ausreise hindern, wird es immer schwieriger, Verbindungen nach Kasachstan aufrecht zu erhalten.
Mit den Mitteln chinesischer Biopolitik und durch Abspeicherung sämtlicher Personaldaten wird die Ausreise nach Kasachstan von den chinesischen Behörden streng überwacht. Nach unterschiedlichen Meldungen von Einwohner*innen des Kasachischen Autonomen Bezirks Ili in Xinjiang gab es eine Verpflichtung, vor der Reise nach Kasachstan DNA-Daten, 3D-Aufnahmen und Blutproben abzugeben. Sogar die Stimmen der Ausreisenden wurden aufgenommen.
Gleichzeitig gab es zahlreiche Beschwerden wegen grundloser Inhaftierungen und Befragungen von chinesischen Kasach*innen, die aus Kasachstan nach Xinjiang zurückkehrten. Besonders betroffen waren kasachische Studierende, die zwar die chinesische Staatsbürgerschaft hatten, sich aber aufgrund der finanziellen staatlichen Vergünstigungen und der kasachischen Sprache für eine Hochschulausbildung in Kasachstan entschieden hatten. Auf die Anfrage von RFE/RL's Radio Azattyq vom letzten Jahr hat das kasachstanische Bildungsministerium berichtet, dass 88 ethnischkasachische Studierende mit chinesischer Staatsbürgerschaft nach den Sommerferien in Xinjiang nicht mehr fürs Studium zurück nach Kasachstan ausreisen konnten. In diesem Sommer sind weitere 80 Studierende aus Angst vor Inhaftierung gar nicht erst ins Elternhaus nach China zurückgefahren.
Besondere Schwierigkeiten haben Menschen mit einer doppelten Staatsbürgerschaft (von China und Kasachstan) und chinesische Staatsbürger*innen mit einem kasachischen Aufenthaltstitel. Gegenwärtig können fast 700 Kasach*innen aus Xinjiang nicht ausreisen. Diese Maßnahmen werden mit Hinweis auf eine mögliche Offenlegung von chinesischen Staatsgeheimnissen ergriffen.
Der Prozess der zwangsweisen Assimilierung hat zunächst mit der Einschränkung religiöser Freiheiten angefangen, die sich ab 2016 zu antireligiösen Praktiken entwickelte. Dies wurde offiziell mit der Bekämpfung des Terrorismus und Extremismus begründet. Solche Einschränkungen werden jedoch nicht in Gesetzgebungsakten formuliert, sondern in Form von Parteidirektiven, die dann durch lokale Parteikomitees verbreitet werden, denn es gilt kein generelles Islamverbot in Xinjiang. Die chinesische Volksgruppe Hui bekennt sich ebenfalls zum Islam und macht 40 Prozent der Bevölkerung in der Region aus. Im Vergleich zu den anderen Volksgruppen genießen die Hui eine Ausnahmestellung, auch in Bezug auf die freie Ausübung ihrer Religion. Die religiösen Einschränkungen gründen also ausschließlich auf ethnischen Merkmalen.
Darüber hinaus werden die ethnisch „Unerwünschten“ im Namen der Sicherung der sozialen Stabilität aufgrund ihrer „Zuneigung“ zum Islam in sogenannte politische Umerziehungslager gebracht. Wie genau der Umerziehungsprozess abläuft, kann man nur aufgrund einiger weniger Berichte der ehemaligen Inhaftierten einschätzen. Die Inhaftierten berichten von zu demonstrierender Entfremdung vom Islam, täglichem Singen der Hymne, Erlernen der chinesischen Sprache und der Parteigeschichte. Die Dauer der Festnahme in einem solchen Gefängnissystem richtet sich unmittelbar nach dem Erfolg der Umerziehung. Gewaltmaßnahmen und die sehr beengten Unterbringungsbedingungen in den Lagern sollen diesen Prozess beschleunigen. Das Problem der Überfüllung scheint die chinesische Regierung aber bald zu lösen: Zahlreiche öffentliche Ausschreibungen für den Aufbau von neuen Umerziehungseinheiten wurden im April 2017 publiziert.
Die Masseninhaftierungen haben seit Mitte 2016 einen kontinuierlichen Charakter erworben. Nach Angaben von Human Rights Watch beläuft sich die Zahl der Inhaftierten auf mehr als eine Million Menschen.
Zurückhaltende Reaktion der kasachischen Seite
Über die Unterdrückung ethnischer Kasach*innen in China wurde erstmals öffentlich im April berichtet. Nach einem offiziellen Auftrag des kasachischen Präsidenten und nach der Offenlegung des Problems im Europaparlament im April 2018 wurde den zahlreichen Beschwerden der Angehörigen von Betroffenen nachgegangen. Die Frage der kasachischen Diaspora wurde bei den bilateralen Beratungen des stellvertretenden Außenministers Kasachstans und des chinesischen Regionalchefs aufgeworfen und es wurden Arbeitsreisen in die Region unternommen. Darüber hinaus wurde ein Aktionsplan zur Unterstützung von ethnischen Kasachen im Ausland für 2018–2022 genehmigt, der Stipendien und die Bereitstellung von Lernmaterial im Ausland vorsieht.
Nach Angaben des Außenministeriums verbleiben gegenwärtig rund 170 Kasach*innen unter Haft in Xinjiang. Es ist fraglich, ob die Maßnahmen zur Unterstützung von ethnischen Kasach*innen in China ausreichend sind.
Migrationsbewegungen aus China nach Kasachstan haben im letzten Jahr drastisch zugenommen. Zum ersten Mal in der Geschichte des unabhängigen Kasachstans kommen mehr ethnische Kasach*innen aus China als aus Usbekistan, dem bisher wichtigsten Migrationsland.
Doch die kasachische Regierung reagiert noch zurückhaltend und befolgt weiter das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des Nachbarstaats. Schließlich geht es nicht um eine gezielte Richtlinie Chinas gegen Kasach*innen, stattdessen spricht man über eine pauschale Politik gegenüber ethnischen Minderheiten. Da die chinesische Regierung die Umerziehungslager leugnet und Kasachstan in das chinesische Projekt Neue Seidenstraße (Belt-and-Road-Initiative) eingebunden ist, scheint es wenig opportun, etwas zu unternehmen. Dass Sairagul Sauytbay nach ihrer Entlassung nicht abgeschoben wurde, und damit einer wahrscheinlichen Todesstrafe in China entgeht, kann als Zeichen der Unterstützung gelesen werden. Es bestärkt die Hoffnungen derjenigen, die eine Flucht aus China wagen würden, dass sie Aufnahme im historischen Heimatland finden.
Taissiya Sutormina ist Wissenschaftliche Hilfskraft am ZOiS.