Die Stimmung im ukrainischen Donbass vor den Präsidentschaftswahlen
Wenige Tage vor der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen in der Ukraine ist deren Ausgang kaum vorherzusagen. Ein beträchtlicher Teil der Wähler*innen ist noch unentschlossen, und es besteht eine erhebliche Ungewissheit, wie viele der jungen Wahlberechtigten am Wahltag zur Urne gehen werden. Der Comedian und Politik-Neuling Wolodymyr Selensky, der bei den jungen Wähler*innen und im Südosten des Landes am beliebtesten ist, liegt in den Umfragen vorn. Die Aussichten für die ehemalige Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko, in die zweite Runde einzuziehen, sind stabil geblieben, während Amtsinhaber Petro Poroschenko auf der Zielgeraden noch einmal zulegen könnte.
Bei dieser eng umkämpften Wahl haben sich alle Augen auf landesweite Trends oder auf Makroregionen und weniger auf einzelne Regionen gerichtet. Themen, die den 2014 ausgebrochenen Krieg in der Donbass-Region betreffen, haben im Wahlkampf eine prominente Rolle gespielt, insbesondere in der Rhetorik von Präsident Poroschenko. Wie denken aber die Menschen über ukrainische Politik, für die der Krieg Teil ihres Alltags ist? Beabsichtigen sie zur Wahl zu gehen, und wenn ja, wem werden sie ihre Stimme geben?
Ohne die international nicht anerkannten selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk, die sich nicht unter der Kontrolle der Zentralregierung befinden und deshalb nicht an der Wahl teilnehmen werden, hat sich das traditionelle Gewicht des Donbass bei Wahlen verringert. Die Region ist gleichwohl von besonderer Bedeutung für die ukrainische Politik. Die Einstellungen der Menschen in der Region bilden die unmittelbaren Herausforderungen ab, denen sich der neue Präsident oder die neue Präsidentin gegenübersehen wird, wenn es um die Bevölkerung in der Nähe der Frontlinie oder allgemein im Südosten der Ukraine geht.
Auswirkungen des Krieges
Das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) hat im März 2019 in den von Kiew kontrollierten Gebieten des Donbass 1.200 Personen befragt. Das Interesse an den Wahlen war, so ergaben die Face-to-face-Interviews, groß: 73 Prozent der Befragten gaben an, zur Wahl gehen zu wollen. Das ist – verglichen mit den 47 Prozent, die nach eigenen Angaben bei der letzten Präsidentschaftswahl 2014 zur Urne gegangen sind – ein hoher Wert. In jenem Jahr war wegen der Sicherheitslage vor Ort der Zugang zu den Wahllokalen nur eingeschränkt möglich. Die Erfahrungen, die die regionale Bevölkerung seit 2014 mit Krieg und Politik gemacht hat, scheinen darüber hinaus einen mobilisierenden Effekt gehabt zu haben.
Von den Befragten, die angaben, zur Wahl gehen zu wollen, waren 24 Prozent noch unentschlossen, wen sie wählen sollen. An der Spitze lagen hier Selensky (21 Prozent) und Jurij Bojko (16 Prozent), der ehemalige Chef des Oppositionsblockes, der die politischen Kräfte des Südostens repräsentierte. Nach den regierungskritischen Protesten des Euromaidan 2013/14 hatten sich diese Kräfte neu gruppiert und vor kurzem erneut getrennt. Bojko ist nun mit der sogenannten Oppositionsplattform – Für das Leben verbunden. Die Unterstützung für Selensky und Bojko macht deutlich, dass die Wähler*innen im Donbass einerseits auf einen Wandel hoffen, so unscharf Selenskys politisches Profil auch sein mag. Andererseits halten sie an einer älteren Tradition fest, lose Blöcke zu unterstützen, die regionale politische und wirtschaftliche Interessen repräsentieren und ganz oder teilweise in Opposition zur politischen Agenda von Kiew stehen.
Für die Wählerschaft im Donbass ist aktuell kennzeichnend, dass eine Vielfalt politischer Präferenzen besteht. Der ZOiS-Studie zufolge können Tymoschenko und Poroschenko gegenwärtig mit jeweils rund sieben Prozent der Stimmen in der Region rechnen. Oleksandr Wilkul, der gegenwärtige Anführer des umbenannten Oppositionsblocks – Partei der Entwicklung und des Friedens, käme auf sechs Prozent. Diese zu erwartende Stimmenverteilung bedeutet gegenüber 2014 einen Wandel. Damals hatte eine eindeutige Mehrheit der Befragten, die zur Wahl gegangen waren, für Poroschenko gestimmt (35 Prozent). Auf den weiteren Plätzen folgten Bojko (13 Prozent) und Tymoschenko (11 Prozent).
Enttäuschung über die derzeitige Regierung
Dieser Trend wird durch die Umfrageergebnisse zum Vertrauen in Politiker*innen und Institutionen bestätigt. Die meisten Befragten äußerten sich in Bezug auf Poroschenko höchst kritisch: 66 Prozent der Befragten sagten, dass sie ihm überhaupt nicht vertrauten. Weitere 20 Prozent gaben an, dass sie ihm „eher nicht vertrauen“ würden. Das Vertrauen in die Regierung und das Parlament fehlte ebenfalls stark, wodurch das Ausmaß der Entfremdung von der Politik in Kiew deutlich wird. Das Vertrauen in die lokale Politik war etwas größer: 48 Prozent der Befragten äußerten volles oder teilweises Vertrauen in die Kommunalräte und Bürgermeister, während 52 Prozent meinten, sie hätten „überhaupt kein“ oder „eher kein“ Vertrauen.
51 Prozent der Befragten vertrauten der ukrainischen Armee „vollkommen“ oder „überwiegend“; die Armee bleibt somit die Institution, die das größte Vertrauen genießt. Die Freiwilligenbataillone werden meist kritisch gesehen, 68 Prozent der Interviewten vertrauen ihnen nicht oder eher nicht.
Implikationen für die Parlamentswahlen
Im Verfassungssystem der Ukraine haben die Parlamentswahlen (die im Herbst anstehen) ein noch größeres Gewicht als die Präsidentschaftswahlen. Das Ergebnis der letzteren wird erhebliche Auswirkungen auf den Ausgang der ersteren haben. Politische Parteien oder Blöcke, die die tatsächlichen oder vermeintlichen Interessen des Südostens erfassen, haben eine realistische Chance, eine beträchtliche Anzahl von Parlamentsmandaten zu erringen.
Im März 2019 hatten 74 Prozent der Befragten die Absicht, bei den Parlamentswahlen zur Urne zu gehen. Nur 42 Prozent der Befragten gaben an, an den letzten Parlamentswahlen 2014 teilgenommen zu haben. Die politischen Kräfte mit Verbindungen zum Südosten waren seinerzeit durch den Euromaidan erheblich geschwächt. Von denjenigen, die bei den diesjährigen Parlamentswahlen abstimmen wollen, gaben 15 Prozent an, dass sie den Oppositionsblock wählen würden. 12 Prozent würden Selenskys Partei wählen – die offiziell noch nicht existiert –, und 8 Prozent die Oppositionsplattform – Für das Leben. Tymoschenkos Partei Vaterland liegt bei 6 Prozent und Poroschenkos Block bei rund 5 Prozent.
Die Wahlberechtigten im Donbass scheinen entschlossen zu sein, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Die Kriegserfahrungen der Region und die Enttäuschung der Menschen über Poroschenkos Regierung haben die Bevölkerung mobilisiert. Die politischen Ansichten der Wähler*innen sind eine Kombination aus dem Wunsch nach etwas Neuem, das auf die Sorgen der Bevölkerung in der Region reagiert (Selensky), und einer Rückkehr zu etwas Vertrautem, das auf einem diffusen Konglomerat regionaler und oligarchischer Interessen beruht (Bojko/Wilkul). In letzterem könnte sich die pragmatische Hoffnung auf Frieden durch eine veränderte Haltung gegenüber Russland ausdrücken.
Die Ergebnisse der Studie zeigen: Wer auch immer die Präsidentschaftswahl gewinnt, wird sich mit einer Vielfalt von Meinungen im Donbass auseinandersetzen müssen, wenn der Sieger oder die Siegerin die Hoffnung hat, im Vorfeld der Parlamentswahlen die Bildung eines geschlossenen oppositionellen Blocks zu verhindern.
Gwendolyn Sasse ist wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS).