ZOiS Spotlight 2/2024

Aus dem Kriegsgebiet in die Konfliktregion: Ukrainische Geflüchtete in Transnistrien

Von Sabine von Löwis 24.01.2024

Ein Teil der Menschen, die wegen des russischen Angriffskriegs die Ukraine verlassen mussten, ist nach Transnistrien geflüchtet. Warum suchen Ukrainer*innen in einem De-facto-Staat Schutz, der von Russland finanziell und militärisch unterstützt wird, und wie ist ihre Situation dort? Eine ZOiS-Studie gibt Einblick.

Tiraspol, die Hauptstadt des De-facto-Staates Transnistrien © IMAGO / NurPhoto

Seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine im Februar 2022 haben mehr als eine Million Menschen die ukrainisch-moldauische Grenze überquert. Davon sind mit Stand Dezember 2023 nach offiziellen Angaben etwa 120.600 in Moldau geblieben. Die tatsächliche Zahl dürfte jedoch niedriger liegen, unter anderem weil sich viele Ukrainer*innen regelmäßig zwischen Moldau und der Ukraine hin- und her bewegen. Ein Teil der aus der Ukraine Geflüchteten hat sich in der von Russland gestützten De-facto-Republik Transnistrien angesiedelt. Die genaue Anzahl ist ähnlich schwer zu bestimmen. Gemäß der offiziellen Statistik der De-facto-Behörden lag die Zahl der eingereisten Menschen Anfang Januar 2024 bei 185.200, wovon sich 172.500 in Transnistrien angemeldet haben. Lokale Expert*innen schätzen, dass möglicherweise 5.000 bis 6.000 ukrainische Geflüchtete in Transnistrien geblieben sind, das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) schätzt die Zahl zwischen 8.000 und 10.000.

Der De-facto-Staat Transnistrien gehört völkerrechtlich zu Moldau. Er hat sich nach einem kurzen militärischen Konflikt 1992 für unabhängig erklärt, wird aber von keinem Land der Welt anerkannt. Transnistrien wird von Russland finanziell und militärisch unterstützt und erhielt in diesem Zusammenhang im Frühjahr 2022 kurze Zeit mediale und politische Aufmerksamkeit. Hintergrund waren bis heute ungeklärte Explosionen in der Hauptstadt Tiraspol und im Waffenlager Cobasna. Dies gab Anlass zur Befürchtung, dass der Krieg sich in die Region ausdehnen würde und die militärische Präsenz Russlands in Transnistrien sowie die Abhängigkeit des De-facto-Staates von seiner Schutzmacht zu einer solchen Eskalation beitragen könnte. Schon kurz nach Kriegsbeginn hat die Ukraine die ca. 400 km lange Grenze zu Transnistrien geschlossen, so dass offizielle Ausreisen seither nur noch über die moldauisch-ukrainische Grenze möglich sind.

Die besondere geopolitische Lage und die Position des De-facto-Staates als maßgeblich von Russland unterstützt wirft die Frage auf, warum Geflüchtete aus der Ukraine nach Transnistrien gehen und wie es ihnen in der Konfliktregion ergeht.

Nähe und Sprache erleichtern die Ankunft

Ein wesentlicher Faktor ist die räumliche Nähe. Viele nutzten die Route nach Süden und die direkten Verbindungen ins Nachbarland, um den überfüllten Evakuierungszügen nach Westen auszuweichen. Eine Studie der Internationalen Organisation für Migration (IOM) vom Winter 2022/23 zeigt, dass 71 Prozent der Befragten in Transnistrien aus der Region Odesa im Süden der Ukraine und unweit der Grenze zu Moldau kommen. Auch die enge wirtschaftliche und soziale Verflochtenheit mit der Ukraine spielt eine Rolle. Viele verfügen über verwandtschaftliche und freundschaftliche Beziehungen oder stammen gar selbst aus Transnistrien. Zudem sehen sich ca. 22 Prozent der Bewohner*innen Transnistriens als Ukrainer*innen. Die sprachlichen Barrieren sind niedrig. Offiziell verwendet der De-facto-Staat Rumänisch (von der De-facto-Regierung Moldauisch genannt), Ukrainisch und Russisch. Im Alltag, im Bildungswesen und in den Behörden dominiert Russisch. Die schon erwähnte Umfrage der IOM ergab, dass 82 Prozent bei Verwandten, Freund*innen oder Bekannten wohnen, während ein weitaus geringerer Teil eigene Wohnungen mietet. Einige wenige wohnen in zur Verfügung gestellten Unterkünften. Während im Frühjahr 2022 sieben solche Einrichtungen in Transnistrien eröffnet wurden, ist derzeit nur noch eine in Gebrauch. Der Zugang zu Schulen und Kindergärten ist einfach und kostenlos. So geben die Behörden an, dass gut 400 Schüler*innen in allgemeinbildenden Schulen lernen und etwa 200 Kinder in Kindergärten untergebracht sind. Lokale Expert*innen schätzen die Zahl der Schüler*innen etwa doppelt so hoch ein. Die Kinder folgen in der Regel, wie in anderen Ankunftsländern auch, neben dem Schulbesuch vor Ort online dem Unterricht in der Ukraine.

Wenig staatliche Unterstützung

Abgesehen von diesen Rahmenbedingungen, die eine Ankunft erleichtern, wird die transnistrische De-facto-Regierung nicht weiter aktiv. Ein Problem stellt der Zugang zu finanziellen Ressourcen, Lebensmitteln und Kleidung dar. Um finanzielle Unterstützung zu erhalten, müssen die Geflüchteten nach Moldau reisen, da die internationale Hilfe nicht an Transnistrien ausgezahlt wird. Allerdings haben IOM und das UN-Kinderhilfswerk UNICEF Hilfsgüter über die lokale NGO Resonance auch direkt in Transnistrien verteilt. Die Republik Moldau hat im März 2023 eine Richtlinie erlassen, die ukrainischen Geflüchteten einen temporären Schutzstatus gewährt. Dieser gilt für ein Jahr und ermöglicht den Zugang zu medizinischer Versorgung, sozialen Leistungen und zum Arbeitsmarkt in der Republik Moldau. Den ukrainischen Geflüchteten in Transnistrien ist diese Richtlinie jedoch häufig nicht bekannt; hinzu kommen bürokratische Hürden, da Moldau erforderliche Dokumente für die Beantragung des Schutzstatus, die in Transnistrien ausgestellt werden, nicht anerkennt.

Sichere Unsicherheit

Darüber hinaus müssen die Geflüchteten aufgrund der geopolitischen Lage Transnistriens verschiedene Widersprüche aushalten. Neben den formalen Unsicherheiten sind sie etwa mit Differenzen bezüglich politischer und gesellschaftlicher Einstellungen konfrontiert. In vom Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien durchgeführten Interviews mit Geflüchteten in Transnistrien schildern die Menschen unterschiedliche Herausforderungen in ihrem Alltag. Im öffentlichen Raum wird die politische Nähe zu Russland mit Flaggen demonstriert, und auch in Gesprächen wird die Nähe der Bewohner*innen Transnistriens zu russischen identitätsstiftenden Projekten wie der „Russischen Welt“ deutlich. Manche Geflüchtete werden direkt angesprochen, ob sie für Russland oder die Ukraine seien. Der Unterricht in transnistrischen Schulen erfolgt abgesehen von wenigen Ausnahmen in russischer Sprache. Neben der Angst vieler Bewohner*innen Transnistriens, dass der Krieg sich ausweitet, nehmen die Geflüchteten auch Äußerungen wahr, die sich für eine Landbrücke zwischen den russisch besetzten Gebieten und Transnistrien aussprechen. Letztlich sind unter den Geflüchteten auch einige, die vor 30 Jahren vor dem Konflikt in Moldau geflohen sind und wegen des Krieges in der Ukraine nun zurück nach Moldau fliehen. Das Leben und die Zukunft der Geflüchteten aus der Ukraine in Transnistrien ist durch Ambivalenzen geprägt, die mit der besonderen geopolitischen Lage zusammenhängen und deren Situation schwierig und ungewiss bleibt angesichts des andauernden Krieges, dessen Ende nicht absehbar ist.


PD Dr. Sabine von Löwis ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Leiterin des Forschungsschwerpunkts Konfliktdynamiken und Grenzregionen" am ZOiS.