Spotlight on Ukraine 5

Bildung über Grenzen hinweg: Wie ukrainische Geflüchtete deutsche Schulen wahrnehmen

Von Helen Pidgorna 22.03.2024

Mehr als 218.000 aus der Ukraine geflüchtete Kinder besuchen deutsche Schulen. Den deutlichsten Unterschied zur ukrainischen Schulbildung sehen ihre Eltern in einem Fokus auf schülerzentrierten anstatt lehrerzentrierten Unterricht. Doch eine umfassende Schulreform möchte diesen Trend auch in der Ukraine umsetzen.

Willkommensklasse für aus der Ukraine geflüchtete Schüler*innen an einer Grundschule in Deutschland. IMAGO / Funke Foto Services

Aus dem Englischen übersetzt von Michael G. Esch.

Am 24. Februar 2024 jährte sich Russlands umfassende Invasion der Ukraine zum zweiten Mal – eine Invasion, die dazu geführt hat, dass Millionen von Ukrainer*innen ihre Heimat verlassen mussten. Für Familien mit schulpflichtigen Kindern bedeuteten die Flucht vor dem Krieg und das Überqueren von Landesgrenzen auch einen Wechsel von einem Schulsystem in ein anderes. Damit mussten sie sich auch in neue schulische Umgebungen und Lehrkonzepte zu hineinfinden. Im Februar 2024 waren mehr als 265.000 ukrainische Kinder im Grund- und Sekundarschulalter für den temporären Schutzstatus in Deutschland registriert, mehr als 218.000 besuchten deutsche Schulen.

Im Rahmen einer laufenden Studie über die Bildungserfahrungen ukrainischer Geflüchteter in Deutschland mit Kindern im Sekundarschulalter habe ich Interviews mit Eltern und Jugendlichen geführt. Vor allem wollte ich erfahren, wie sie über deutsche Schulen denken und was der Krieg und ihre Migration in den Bildungswegen ihrer Kinder verändert haben. Die ersten Ergebnisse aus 18 landesweiten Interviews zeigen, dass der größte Unterschied, den die Eltern in Bezug auf die Schulbildung der Kinder beschreiben, mit dem Wechsel vom lehrerzentrierten Unterricht, also dem Frontalunterricht, in der Ukraine hin zu einem schülerzentrierten Unterricht in Deutschland zusammenhängen.

Von der Autorität der Lehrenden zur Verantwortung der Lernenden

Schülerzentrierter Unterricht verwendet Lehrmethoden, die den Fokus von der Lehrkraft hin zu den Lernenden verschieben. Er legt die Verantwortung für den Wissenserwerb in die Hände der Schüler*innen, um autonome und unabhängige Lernende zu fördern. Im Mittelpunkt steht das Interesse der Lernenden. Die Hauptaufgabe der Lehrkraft besteht nicht darin, Wissen zu vermitteln, sondern ein aktives Lernen der Schüler*innen zu ermöglichen.

Die 17-jährige Bohdana aus Charkiw, die seit fast zwei Jahren eine deutsche Schule besucht, vergleicht ihre neuen Schulerfahrungen mit denen aus der Ukraine:

„[In der Ukraine] wurde mir nicht beigebracht, selbst zu denken, sondern ich sollte aufnehmen, was mir als richtig vermittelt wird. Ich hatte Angst, etwas Falsches zu sagen oder zu tun. Ich hatte Angst, eine Diskussion anzufangen, weil das als Widerworte geben galt. Wenn Deine Meinung nicht mit der des Lehrers übereinstimmte, hat es sich auf die Note und das Verhaltens des Lehrers ausgewirkt. Hier [in Deutschland] liegen meine Noten ganz in meiner Verantwortung. Wenn ich mich nicht melde, werde ich nicht gefragt und bekomme auch keine Note. [...] In der Ukraine drehte sich meine Schulbildung um die Autorität des Lehrers, und die basierte oft auf der Angst vor Konsequenzen [bei den Schülern].“

Was Bohdana als Unterricht beschreibt, der ganz um die Autorität der Lehrkraft kreist, schließt nicht nur die Wissensvermittlung ein, sondern auch die Sozialisation und Subjektivierung der Lernenden. Sozialisation beschreibt die Art und Weise, in der Schüler*innen Teil der bestehenden sozialen, kulturellen und politischen Praktiken werden und sich mit ihnen identifizieren. Subjektivierung bezieht sich auf die Fähigkeit, aus eigener Initiative und mit Verantwortung zu handeln.

Olesia, Mutter eines 14jährigen Schülers aus dem Oblast Cherson, sagte: „Hier [in Deutschland] erklären die Lehrer, ohne ihre Stimme zu heben; [sie] verweisen dich nicht aus dem Klassenzimmer. Die Kinder tragen die Kleidung, in der sie sich wohl fühlen; die Lehrer machen niemals Bemerkungen darüber, wie sich jemand kleidet. Wenn du eine schlechte Note bekommst, wird das nicht öffentlich verkündet, und wenn du in der Klasse noch nicht so weit bist, wirst du nicht vor allen anderen bloßgestellt.“ Ähnliche Einschätzungen finden sich häufig in den Interviews und werden mit besonderem Nachdruck von Eltern geäußert, deren Kinder besonderen Förderbedarf haben.

Praxisbezogenes und intensiveres Lernen

Beim schülerzentrierten Unterricht geht es auch darum, wie relevant und anwendbar der Lehrplan im wirklichen Leben ist. Dies gilt als unabdingbar für aktives Lernen. Eine solche Herangehensweise setzt voraus, dass die Lehrkraft flexibel genug ist, die Aktivitäten im Klassenzimmer selbst zu planen, und dass das Curriculum nicht als festgelegter Ablaufplan betrachtet wird, sondern als Vorschlag für grundlegende Prinzipien und Inhalte der Interaktion im Klassenzimmer. Yevheniia aus Kyjiw reflektiert das Lernen ihrer 16-jährigen Tochter:

„[Meine Tochter] belegt einen Politikkurs. Dann begann der Krieg in Israel [und Gaza], und darüber reden sie jetzt. Ich weiß nicht, ob sie das in unserer ukrainischen Schule so hätten machen können. [In der Ukraine] ist es so, wenn du in Geschichte eine bestimmte Periode lernen sollst, dann bleibt das so. Niemand würde vorschlagen, etwas anderes zu diskutieren. […] Und in den Fremdsprachen hat sie [in der Ukraine] solche Dinge wie Wortbetonung, Präfixe und Suffixe gelernt, und hier lernen sie, wie man eine öffentliche Rede hält oder einen Bericht schreibt. Und das braucht man im Leben.“

Die Eltern halten den ukrainischen Lehrplan für dichter gepackt und schwerer verständlich als den deutschen. Manche Eltern, wie Irina, Mutter von zwei Kindern im Alter von 11 und 13 Jahren und Lehrerin aus Donetsk, sehen darin allerdings einen Vorteil, insbesondere in Fächern wie Mathematik. Eltern wie sie sorgen dafür, dass die Kinder dem ukrainischen Lehrplan folgen, sei es indem sie regelmäßig Hausaufgaben für ukrainische Schulen machen, an der sie weiterhin angemeldet sind, sei es mit Hilfe ukrainischer Nachhilfelehrer*innen. Iryna erklärt: „[In Deutschland] ist das Niveau sehr niedrig. Der Unterschied in Mathematik ist riesig. [...] Wenn sie Winkel lernen, dann messen sie die bloß, sie lösen keine Rechenaufgaben. […] [In der Ukraine] ist der Lehrplan breiter angelegt und es wird mehr Wissen vermittelt.“

Andere Eltern allerdings widersprechen der Auffassung, mehr Wissensinhalte seien besser. Svitlana, Mutter eines 15-Jährigen aus Kyjiw, meint: „[In der Ukraine] lernt man viel Stoff, aber nur oberflächlich. In Literatur zum Beispiel quetschen sie 20 Romane in ein Jahr und rasen da so durch. Hier [in Deutschland] nehmen sie einen Roman, und den lesen und diskutieren sie dann ein halbes Jahr lang. Es wird hier also intensiver gelernt.“

Schüler*innen auf den Trümmern einer Schule in Tschernihiw: Jede siebte Schule in der Ukraine wurde seit dem 24. Februar 2022 bombardiert. https://saved.foundation/

Die neue ukrainische Schulreform

Im Jahr 2016 startete das Reformprojekt Neue Ukrainische Schule (NUS) mit dem Ziel, Schulen in sichere Orte zu verwandeln. Die Lernenden sollen ermutigt werden, kritisch zu denken, frei ihre Meinungen zu äußern und nicht nur Wissen zu erwerben, sondern auch die Fähigkeit, dieses in der wirklichen Welt anzuwenden. Diese Ziele decken sich mit den wesentlichen Unterschieden, die ukrainische Familien in Deutschland im Vergleich der beiden Bildungssysteme wahrnehmen.

Mit dem Beginn des umfassenden Krieges hatte die NUS-Reform allerdings erst die untersten Jahrgänge der Sekundarstufen erreicht, nachdem sie bereits vorher von der Covid-19-Pandemie und Problemen bei der Umsetzung verzögert worden war. Seit dem 24. Februar 2022 sind mehr als 3.700 Bildungseinrichtungen in der Ukraine beschädigt und über 360 zerstört worden. Organisationen wie savED bemühen sich, die Schulen wieder aufzubauen und den Zugang ukrainischer Kinder zu Bildung wiederherzustellen, wobei sie davon ausgehen, dass die Bildungsreform fortgesetzt werden muss. Die Erfahrungen ukrainischer Familien mit schülerzentriertem Unterricht im Ausland, also auch in Deutschland, dürften künftig bei der Überwindung autoritärer Unterrichtspraktiken an ukrainischen Schulen eine Rolle spielen.


Helen Pidgorna ist Sozialwissenschaftlerin und Fellow im Ukraine Research Network@ZOiS, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird.