Bildung unter Beschuss: das ukrainische Schulsystem unter Bedingungen der Okkupation
Seit mehr als einem halben Jahr herrscht Krieg in der Ukraine. Kaum ein Lebensbereich ist von der russischen Invasion nicht betroffen, so auch das ukrainische Bildungssystem, das sich seit Kriegsbeginn mit enormen Herausforderungen konfrontiert sieht, insbesondere in den besetzten Gebieten. Der russische Angriff am 24. Februar hat den Unterricht mitten im Schuljahr unterbrochen. Mit der Verhängung des Kriegsrechts wurden die Schulen und andere Bildungseinrichtungen geschlossen und die Kinder zunächst für zwei Wochen in Ferien geschickt. Als im März klar wurde, dass der Krieg nicht so bald enden würde, empfahl das Bildungsministerium, den Unterricht, soweit technisch möglich, auf online umzustellen. Wo das nicht ging, sollten sich die Schulen auf die psychologische Unterstützung der Kinder konzentrieren; darüber hinaus wurde das Lehrpersonal aufgefordert, die Schüler*innen und ihre Familien über die Entwicklung der örtlichen Situation und Evakuierungsmöglichkeiten zu informieren und zur Organisierung der zivilen Verteidigung beizutragen. Auch wenn der Unterricht inzwischen teilweise wiederaufgenommen werden konnte, gab es seit dem Zweiten Weltkrieg keine vergleichbaren Probleme wie im Schuljahr 2021/22. Im Mai dieses Jahres fanden sich 800 Schulen in besetzen Gebieten wieder. Zahllose Schulgebäude wurden beschädigt oder zerstört. Nach Angaben des ukrainischen Ombudsmanns für Bildung befinden sich derzeit etwa 26.000 ukrainische Lehrer*innen im Ausland, desgleichen 700.000 bis 1,5 Millionen schulpflichtige Kinder.
Widerstand durch Fernunterricht
In heftig umkämpften Gebieten wie Mariupol war an Schulunterricht nicht zu denken. Anderswo in den besetzten Gebieten kamen die lokalen Behörden unter Druck, die Schulen wieder zu öffnen, weil die Besatzer die Rückkehr zum „normalen Leben“ demonstrieren und den „Frieden“ feiern wollten, den Russland den Menschen dort angeblich gebracht hat. In dieser Situation war Fernunterricht – den die ukrainischen Schulen bereits während der beiden Pandemiejahre praktiziert hatten – nicht nur eine pragmatische Lösung, sondern auch ein Akt des passiven Widerstands, der es zumindest vorübergehend erlaubte, der direkten Einflussnahme durch die Besatzer zu entgehen. Anfang April erlaubte das Bildungsministerium den Schulen offiziell, je nach Situation selbst zu entscheiden, wann das Schuljahr endet. Sie wurden auch angewiesen, alle Schüler*innen in die nächsthöhere Klasse zu versetzen und die Prüfungen am Ende des Schuljahrs auszusetzen. Das Schuljahr in den besetzten Gebieten vorzeitig zu beenden, war auch eine Strategie, Kollaboration zu vermeiden.
Für das Schuljahr 2021/22 wurde die landesweite Abiturprüfung – die als eine der erfolgreichsten Reformen in der Ukraine gilt und die Korruption im Bildungsbereich erheblich reduziert hat – der neuen Situation angepasst. Die zentralisierten Prüfungen in vier Disziplinen wurden durch eine Prüfung ersetzt, die in den nicht besetzten Teilen des Landes und im europäischen Ausland stattfand. Drei Termine wurden geplant, um mehr Flexibilität zu erlauben. Während des ersten Termins im Juli absolvierten 187.000 Kandidat*innen die Prüfung in 250 Orten in der Ukraine und in 40 europäischen Städten. Jeder Prüfungsort war mit Computern ausgestattet und mit qualifizierten ukrainischen Lehrer*innen besetzt. Trotz einiger Kritikpunkte ist die Fähigkeit der ukrainischen Regierung, solch eine organisatorische Herausforderung zu meistern, beeindruckend.
Bildung als Teil der Kriegsführung
Durch die vorzeitige Beendigung des Schuljahrs hat Kyjiw etwas Zeit gewonnen. Es steht unter großem Druck, da die Kontrolle über das Bildungssystem und seine De-Ukrainisierung zu den Prioritäten der Besatzungsbehörden zählt. Die Unterrichtssprache in den besetzten Gebieten soll Russisch sein und der Lehrplan vom russischen Schulsystem übernommen werden; dies betrifft insbesondere den Geschichtsunterricht. Es geht aber nicht nur um Sprache, Lehrpläne und Bildungsstandards. Nach Moskaus Plänen sollen die Schulen vor allem eine zentrale Rolle in der ideologischen Indoktrination der Kinder übernehmen und sie zu „russischen Patrioten“ und Putin-Unterstützern machen. Damit wird das Bildungssystem zu einem entscheidenden Schlachtfeld im gegenwärtigen Krieg. Das im März eingeführte Gesetz über Kollaboration mit Russland hat daher auch die strafrechtliche Verantwortung für die Verbreitung von Propaganda eines Aggressorstaats in Bildungseinrichtungen sowie die Unterstützung seiner Bildungsagenda eingeführt. Das Reintegrationsministerium empfiehlt den Lehrer*innen, den Unterricht einzustellen, sobald die ukrainischen Standards nicht eingehalten werden können, und verspricht, in diesem Fall das Gehalt weiter auszuzahlen. Zwar betrachtet das Gesetz die Beihilfe zur Einführung russischer Bildungsstandards als Kollaboration, doch sobald sie unter Zwang geschieht, bleibt dies straffrei. Das Bildungsministerium hält dazu an, solche Fälle zu dokumentieren und Beweise für die Ausübung von Druck zu sammeln.
Seit Beginn des neuen Schuljahrs erhöhen die von Moskau eingesetzten Behörden den Druck auf Lehrer*innen und Schuldirektor*innen, die russischen Bildungsstandards zu erfüllen. Verantwortliche der Schulaufsicht werden bedroht, manchmal auch entführt. Wenn Direktor*innen nicht bereit sind zu kollaborieren, werden sie durch russlandtreue Personen ersetzt, auch wenn diese nicht die notwendige Qualifikation besitzen. Da es unter der lokalen Lehrerschaft zu wenig Kollaborationswillige gibt, werden Freiwillige aus Russland rekrutiert. Nach Angaben des unabhängigen russischen Medienportals Mediazona haben sich inzwischen mehr als 200 Lehrer*innen aus Russland gemeldet. Auch die Eltern von Schüler*innen werden unter Druck gesetzt. Es gibt Berichte, nach denen ihnen mit Entzug der elterlichen Rechte gedroht wird, wenn sie sich weigern, ihre Kinder an einer von Russland kontrollierten Schule anzumelden.
Russifizierung des Schulwesens
Ein besonders aussagekräftiges Beispiel ist Mariupol. Kurz nach Eroberung der schwer zerstörten und entvölkerten Stadt kündigten die Besatzungsbehörden die Verlängerung des Schuljahrs bis zum 1. September an und organisierten Sommerkurse zur „Verbesserung der russischen Sprachkompetenz“ der verbliebenen Kinder. In der Stadt, die vor der Invasion eine halbe Million Einwohner*innen zählte, fanden die Besatzer bis Mai lediglich 53 Lehrer*innen, die bereit waren, mit ihnen zu zusammenzuarbeiten. Kooperationswillige Lehrer*innen aus Mariupol wurden zur Umschulung in die russische Stadt Rostow am Don geschickt und erhielten nach absolviertem Programm ein offizielles „Diplom“ als Lehrer*innen für Russisch und russische Geschichte. Um das Defizit an Lehrpersonal auszugleichen, wurden Lehrer*innen und Erzieher*innen aus der selbsternannten Volksrepublik Donezk nach Mariupol entsendet. Zugleich gibt es zahlreiche Initiativen von Lehrer*innen, die aus Mariupol fliehen mussten und weiter nach ukrainischen Standards unterrichten wollen. Eine davon ist ein privates Lyzeum, das von Lehrer*innen der Mariupoler Schule Nr. 56 gegründet wurde und Unterricht für Kinder unabhängig von ihrem Wohnsitz anbietet.
Doch Fernlehre ist keine Lösung auf Dauer. Sie ist abhängig von der Verfügbarkeit einer Internetverbindung, stellt werktätige Eltern mit kleineren Kindern vor Probleme und kann Familien in Gefahr bringen, sobald die Besatzungsbehörden beginnen, den ukrainischen „Untergrund“-Unterricht zu sanktionieren.
2017 hatte die Ukraine erfolgreich damit begonnen, ihr Schulsystem grundlegend zu reformieren und an die europäischen Standards heranzuführen. Auf diesem Weg ist sie ein gutes Stück vorangekommen, obwohl sich ihr alsbald mit der Covid-Pandemie und nun mit dem Krieg beispiellose Hindernisse in den Weg stellten. Doch gleich, wie lange dieser Krieg noch dauern wird, die Bildung, und mit ihr die Zukunft des Landes, darf ihm nicht zum Opfer fallen.
Dr. Tatiana Zhurzhenko ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS im Projekt „Das liberale Skript in den umstrittenen Grenzregionen der Ukraine“.