ZOiS Spotlight 24/2022

Bulgariens neue politische Krise

Von Ivaylo Dinev 22.06.2022
Premierminister Kiril Petkow am 21. Juni bei einer Demonstration zur Unterstützung der Regierung anlässlich des Misstrauensvotums. IMAGO / NurPhoto

Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking.

Mit dem Erfolg eines von der Opposition beantragten Misstrauensvotums ist die bulgarische Regierung unter Premierminister Kiril Petkow nach nur sechs Monaten gescheitert. Seit eine der vier Koalitionsparteien die Regierung verlassen hatte, befand sich das Land politisch in Aufruhr. Begründet hatte die Partei ihren Austritt damit, dass der Premierminister den nationalen Interessen Bulgariens schade, indem er Nordmazedonien im Hinblick auf die geplanten EU-Beitrittsverhandlungen des Nachbarlandes einseitige Zugeständnisse mache.

Die „Regierung des Wandels”

Petkows Regierung wurde gebildet, nachdem der wachsende Unmut über die herrschende Korruption und Armut 2020 zu Massenprotesten gegen die Regierungspartei GERB geführt hatte. Innerhalb eines Jahres wurden drei Parlamentswahlen abgehalten, weil die neuen „Protestparteien“ nicht auf die erforderliche Mehrheit kamen, um unabhängig regieren zu können. Im Herbst 2021 konnte die zentristische Partei „Wir setzen den Wandel fort“ (PP) sich schließlich mit dem liberalen Wahlbündnis „Demokratisches Bulgarien“ (DB), der populistischen Partei „Es gibt ein solches Volk“ (ITN) und der gemäßigt linken Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP) auf ein fragiles Kabinett unter Führung Kiril Petkows einigen. Obwohl sich ihre Werte und Ideologien in vielen Punkten unterscheiden, hatten die Koalitionsparteien ein gemeinsames Ziel: die herrschende Mitte-Rechts-Partei GERB, die mit zahlreichen Korruptionsskandalen und der Veruntreuung von EU-Geldern und öffentlichen Mitteln verbunden war, von der Macht zu vertreiben.

Angesichts der politischen Fragmentierung des Landes ging zum Zeitpunkt der Regierungsbildung niemand davon aus, dass die Koalition lange halten würde. Als Bulgarien sich jedoch durch den Krieg in der Ukraine mit äußeren Bedrohungen und einer steigenden Inflation konfrontiert sah, wurde eine Konsolidierung der Koalition erwartet. Es kam jedoch anders: Slawi Trifonow, der seit den frühen 1990er-Jahren in Bulgarien als Sänger bekannte ITN-Vorsitzende, kündigte bei einem Fernsehauftritt an, dass seine Partei die Koalition aufkündigen und ihre vier Minister*innen die Regierung verlassen werden. Damit verfügte die Koalition über keine Mehrheit mehr. Die anderen Koalitionspartner erklärten, dass sie im Kabinett verbleiben würden, das von nun an von den Stimmen der Opposition und der aus der ITN-Fraktion ausgetretenen Abgeordneten abhängig war. Was hatte Trifonow also dazu veranlasst, das Land in eine neue Regierungskrise zu stürzen?

Hypothese 1: Die Politik der Regierung gegenüber Nordmazedonien

ITN-Vertreter*innen nannten das bulgarische Veto gegen Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und Nordmazedonien als Hauptgrund für den Bruch mit der Koalition. Trifonow und die scheidende Außenministerin Teodora Gentschowska (ITN) warfen Petkow vor, eine einseitige Politik zu verfolgen, die weder den parlamentarischen Konsens noch die nationalen Interessen berücksichtige. Offiziell vertritt Bulgarien die von der Nationalversammlung beschlossene Position, das Veto gegen eine nordmazedonische EU-Mitgliedschaft nur aufzuheben, wenn Nordmazedonien bestimmte Bedingungen erfüllt. Dabei spielen die Interpretation der Geschichte, der Status der Bulgar*innen in der nordmazedonischen Verfassung und Sprachfragen eine Rolle. Petkow steht in der Kritik, eine Aufhebung des Vetos versprochen zu haben, ohne dass diese Bedingungen erfüllt sind. Hintergrund der Ereignisse ist der wachsende Druck westlicher Partner*innen auf Bulgarien, sein Veto aufzugeben.

Nach dem überraschenden Regierungsaustritt von ITN bekräftigte die Mitte-Links-Partei BSP ihre Unterstützung des Premierministers und der Regierung. Die Haltung der BSP lässt vermuten, dass das Veto gegen die Beitrittsverhandlungen der EU mit Nordmazedonien nicht der wahre Grund war, warum die ITN die Koalition verließ. Schließlich betrachtet auch die BSP es als eine „rote Linie“, auf das Veto zu verzichten, ohne dass die von der Nationalversammlung beschlossenen Bedingungen erfüllt sind.

Hypothese 2: Russisches Gas

Nach Aussagen des stellvertretenden Energieministers Plamen Danailow (ITN) ist die Haltung der Regierung zu russischen Gasimporten ein weiterer Grund für den Bruch zwischen PP und ITN. In einem Fernsehinterview sprach er davon, dass das Energieministerium „dem Beschluss des EU-Ministerrats, die Zahlungen an Gazprom auszusetzen, nachgekommen ist“, sagte aber auch, dass das Ministerium dafür sei, „einen ausgewogeneren Ansatz [zu verfolgen] und den Ausstieg aus russischem Gas zu verschieben“. Ende April stellte Gazprom seine Gaslieferungen an Bulgarien, Polen und Litauen ein und verstieß damit gegen laufende Verträge.

Plamen Danailows Aussagen stehen im Widerspruch zur Position des scheidenden Energieministers Alexander Nikolow (ebenfalls ITN), der in einem Interview mit Free Europe sagte, dass es mitten im Krieg keine Verhandlungen über neue Lieferungen geben werde, und der zudem die Ansicht vertrat, dass Bulgarien in den vergangenen Jahrzehnten in eine bewusste Abhängigkeit von Russland gebracht worden sei. Manche Kommentator*innen werfen der ITN vor, russischen Interessen zu dienen, die politischen Positionen der Partei sind jedoch traditionell prowestlich und pro-NATO. Ihr Vorsitzender Trifonow erklärte im April auf Facebook, dass er „aufseiten derjenigen ist, die der Meinung sind, dass die Ukraine auf jede erdenkliche Weise unterstützt werden sollte – einschließlich Waffen“.

Hypothese 3: Wirtschaftskartelle als Strippenzieher hinter den Kulissen

Eine dritte Hypothese sieht den Grund für das Scheitern der Koalition darin, dass die Antikorruptionsmaßnahmen der bisherigen Regierung den Interessen mächtiger Wirtschaftskartelle geschadet hätten. PP behauptete, dass ITN die Regierung verlasse, weil es keine zusätzlichen 3,6 Milliarden BGN aus dem Haushalt des Ministeriums für regionale Entwicklung (unter Leitung von Grosdan Karadjow von ITN) für den Bau und die Instandhaltung von Baustellen erhalten habe. In einem Interview erklärte Kiril Petkow, dass er "unwiderlegbare Beweise" dafür habe, dass ITN die Zahlung durch das Ministerium so strukturieren wollte, dass "Korruption möglich wird".

Im Juni brachten die staatlichen Behörden die phytosanitären Kontrollen an der Grenze zur Türkei das erste Mal seit 2012 wieder unter ihre Kontrolle. Bis vor Kurzem wurden sie von einer Firma namens Eurolab 2011 Ltd. durchgeführt, die unabhängigen Recherchen zufolge von Personen geführt wird, die dem Drogenbaron Christoforos Amanatidis-Taki und der ehemaligen Regierungspartei GERB nahestehen. Ende Mai erklärte der stellvertretende Agrarminister Iwan Christanow, dass an den Kontrollstellen, an denen aus der Türkei kommende Nahrungsmitteltransporte überprüft werden, in den letzten zehn Jahren keine einzige Videoaufnahme der Kontrollen archiviert wurde.

Dass Wirtschaftskartelle die Politik der ITN diktieren, wird durch Politiker*innen gestützt, die die Parlamentsfraktion von ITN verlassen und gegenüber Medienvertreter*innen behauptet haben, dass „Es gibt ein solches Volk“ durch die Mafia infiltriert worden sei und eine Gruppe von Personen, die hinter den Kulissen agieren, die Entscheidungen des Parteivorsitzenden Slawi Trifonow kontrollieren würde. Unmittelbar danach kündigte Trifonow an, er werde Premierminister Petkow und andere verklagen, die ihm unterstellten, er vertrete die Mafia in Bulgarien.

Was kommt als Nächstes?

Das erfolgreiche Misstrauensvotum bedeutet das Ende der aktuellen Regierung und führt aller Wahrscheinlichkeit nach zu vorgezogenen Neuwahlen. Es wird davon ausgegangen, dass die Wahlbeteiligung auf den niedrigsten Stand seit 1989 rutschen wird, da zwei Drittel der Bürger*innen voraussichtlich nicht zur Wahl gehen werden. Mit sieben oder acht Parteien, die potenziell ins Parlament einziehen werden, wird die politische Zersplitterung in Bulgarien weiter zunehmen. Einer erfolgreichen Koalitionsbildung werden dadurch weitere Steine in den Weg gelegt.

Vor nur zwei Jahren sind in Bulgarien, dem ärmsten Mitgliedsstaat der EU, tausende Bürger*innen auf die Straße gegangen, um gegen Korruption und Armut zu demonstrieren. Über eine Million Menschen gaben bei den darauffolgenden Wahlen ihre Stimme ab, weil sie Hoffnung auf ein gerechteres Bulgarien hatten – und sei es auch nur für ihre Kinder. Stattdessen endet die „Regierung des Wandels“ mit Vorwürfen ehemaliger Partner*innen, die nationalen Interessen verraten zu haben, Akteuren, die hinter den Kulissen Einfluss nehmen, und einem Streit über die Verteilung von öffentlichen Geldern in Milliardenhöhe. Eines wurde in den letzten Tagen jedoch sehr deutlich: Weder die aus dem Amt scheidende Regierung aus PP, BSP und DB noch ihre Wähler*innen werden eine Koalition mit GERB oder DPS akzeptieren, jenen dem Anschein nach proeuropäischen Parteien, deren Namen für so viele der Korruptionsskandale in den letzten Jahren stehen.


Ivaylo Dinev ist Politikwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZOiS, wo er das multimethodische Datenlabor des KonKoop-Forschungsnetzwerks koordiniert.