ZOiS Spotlight 12/2023

China in Zentraleuropa: Ist die Luft raus?

Von Tamás Peragovics 14.06.2023

Noch vor wenigen Jahren waren die Visegrád-Länder Ungarn, Slowakei, Polen und die Tschechische Republik um Zusammenarbeit mit China bemüht. Doch mittlerweile sind die Beziehungen deutlich abgekühlt. Auch innerhalb der Gruppe haben sich seit Russlands Angriffskrieg aufgrund der Haltung Ungarns tiefe Gräben aufgetan.

Die Präsident*innen von Ungarn, der Slowakei, der Tschechischen Republik und Polen - Katalin Novák, Miloš Zeman, Zuzana Čaputová und Andrzej Duda - nehmen im Oktober 2022 an einem Treffen der Visegrád-Gruppe teil. IMAGO / CTK Photo

Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking.

Seit China 2012 zusammen mit 16 zentral- und osteuropäischen Staaten das 16+1-Format und ein Jahr später das Projekt „Neue Seidenstraße“ (Belt and Road Initiative, BRI) ins Leben gerufen hat, sind Beijings Bemühungen um die Gunst der vier Länder der Visegrád-Gruppe (V4) zu einem Dreh- und Angelpunkt politischer Diskussionen geworden. Ungarn schloss sich 2015 als erstes europäisches Land der „Neuen Seidenstraße“ an. Kurz darauf zogen noch im selben Jahr Tschechien, Polen und die Slowakei nach. Ungarns Premierminister Viktor Orbán begrüßte den „Ostwind“, der in den globalen Wirtschaftsbeziehungen herrsche, während Tschechiens ehemaliger Präsident Miloš Zeman aus seinem Land einen „unsinkbaren Flugzeugträger” Chinas machen wollte. Obwohl das politische Tamtam häufig nur wenig mit der Realität zu tun hatte, die von bescheidenen Investitionen und Handelszahlen geprägt war, gab es Befürchtungen, dass China die Region vereinnahmen und die V4 in ein Trojanisches Pferd verwandeln würde.

Der König ist nackt

Ein Sprung nach vorne ins Jahr 2022 und die Schlagzeilen verkündeten, dass China Zentral- und Osteuropa verloren habe. Schlimmer noch: Beijing verliert die Region an Taiwan. Abgesehen von Ungarn haben die V4 ihren Umgang mit China neu justiert, sind in ihrer Kritik weniger zurückhaltend geworden und setzen stärker auf das transatlantische Bündnis. So plötzlich das Ende der Romanze zwischen China und den V4 auch scheinen mag, es hat sich bereits seit einer Weile abgezeichnet.

Litauen kann als Schlüssel dienen, um zu verstehen, wie und warum Beijings Charmeoffensive gescheitert ist. Außenminister Gabrielius Landsbergis erklärte 2021, dass die Beziehungen zu China seinem Land „nahezu keine Vorteile“ bringen würden und das 17+1-Format (dem Griechenland 2019 beigetreten war) drohe, Europa zu spalten. Diese Äußerungen waren in ihrer Direktheit einzigartig, kamen sie doch von einem Partnerstaat, der offiziell mit China zusammenarbeitete.

Die Regierung in Vilnius verlieh ihrer Haltung in der Folgezeit noch einmal Nachdruck, indem sie sich aus dem Format zurückzog und anderen EU-Staaten riet, dasselbe zu tun. Seitdem sind die Dämme gebrochen. Obwohl die chinesische Regierung von einem „isolierten Vorfall“ sprach, ebnete Litauens Rückzug dem späteren Austritt Estlands und Lettlands den Weg, wodurch das Format auf 14+1 schrumpfte.

Vorrang der Geopolitik

Noch haben die V4-Länder sich nicht aus dem 14+1-Format zurückgezogen, aber ihre politische Unterstützung für eine Zusammenarbeit mit China schwindet zusehends und der Flirt des Baltikums mit Taiwan erweist sich als ansteckend. Abgesehen von der üblichen Ausnahme Ungarn vollzieht sich in der Region ein beträchtlicher Wandel. Seit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine im Februar 2022 setzen die V4 auf eine stärker wertebasierte Außenpolitik. Damit verfügt Ungarns Balanceakt zwischen Ost und West über immer weniger Fürsprecher in der Region und wird zunehmend schwieriger aufrechtzuerhalten.            

Im April sorgte Polens Premierminister Mateusz Morawiecki für Aufregung, als er die Ukraine mit Taiwan verglich, was aus chinesischer Sicht nicht hinnehmbar ist. Warschau verschärfte auch seine Haltung gegenüber dem Streben der EU nach strategischer Autonomie – einem Codewort für eine stärkere Unabhängigkeit von den Vereinigten Staaten, insbesondere was den Umgang mit China betrifft. Morawiecki rügte den französischen Präsidenten Emmanuel Macron für seinen Besuch in Beijing im April. Dieser sei kurzsichtig gewesen und verwechsle strategische Autonomie mit einer stärkeren Abhängigkeit von China. Als logische Konsequenz seines massiven Einsatzes für die Ukraine hat Warschau seine Beziehungen zu Beijing auf Sparflamme gesetzt.

In ähnlicher Weise geht auch Tschechien momentan auf Distanz zu China. Begleitet von einer großen Delegation besuchte die Sprecherin des Unterhauses des tschechischen Parlaments im März 2023 Taiwan und unterzeichnete eine Vereinbarung zur Rüstungszusammenarbeit, was für China ebenfalls eine rote Linie darstellt. Dies geschah, nachdem der Vorsitzende des tschechischen Senats bereits 2020 Taiwan besucht und mit einer in Taipei gehaltenen Rede („Ich bin Taiwanese“) in Beijing für viel Empörung gesorgt hatte. Anfang des Jahres nahm der tschechische Präsident Petr Pavel einen Anruf der taiwanesischen Präsidentin Tsai Ing-wen entgegen und warnte, dass China „nicht freundlich gesinnt“ sei und keinen Frieden in der Ukraine wolle.

In der Slowakei ist das Bild etwas durchmischter. Die Anzahl der bilateralen Besuche mit Taiwan ist sprunghaft angestiegen und 2021 traute die Regierung in Bratislava sich, den taiwanesischen Außenminister Joseph Wu in Empfang zu nehmen. Im Gegenzug entsandte die Slowakei noch im selben Jahr ihren stellvertretenden Wirtschaftsminister Karol Galek nach Taiwan. Erst vor kurzem nannte der slowakische Vertreter in Taiwan das Land einen „wahren Freund“ der Slowakei. Während der Ablauf der Ereignisse an den Weg erinnert, den Litauen gegangen ist, nimmt Bratislava weiterhin auch auf chinesische Interessen Rücksicht. Im April 2023 besuchte der Sprecher des slowakischen Parlaments auf Einladung Chinas vier Tage lang Beijing. Im Juli 2023 kündigte Volvo, eine Tochter des chinesischen Unternehmens Geely, Investitionen in Košice in einer Höhe von 1,2 Milliarden Euro an.

V3+1 statt V4?

All das lässt Ungarn zum Außenseiter werden und sorgt für Spannungen innerhalb der Gruppe der V4. Im März 2022 wurde ein Treffen der Gruppe abgesagt, weil die Verteidigungsminister Polens und Tschechiens sich aufgrund der Haltung Budapests gegenüber der russischen Aggression weigerten, mit ihrem ungarischen Amtskollegen zu sprechen. Im November 2022 machten sich die übrigen drei Ländern nicht einmal mehr die Mühe, Orbán auf Linie zu bringen, sondern beschränkten ihr Engagement darauf, Ungarn zur Unterstützung eines NATO-Beitritts Finnlands und Schwedens zu bewegen. Im Rahmen der aktuellen tschechischen Präsidentschaft der V4 werden die Beziehungen sich voraussichtlich weiter verschlechtern.

Und dennoch setzt Ungarn weiter auf seinen Pragmatismus gegenüber Beijing, wie ideologiegesteuert diese Haltung mittlerweile auch sein mag. Die Belohnung scheinen gigantische Investitionen des chinesischen Technologieunternehmens CATL in Debrecen zu sein. Obwohl sich auch der Rest der V4 gegenüber Geschäften mit China nicht verschließt, ist Ungarns unverhohlener Bruch mit dem europäischen Mainstream dennoch außergewöhnlich. Erst vor kurzem schwamm Orbán erneut gegen den Strom, als er sich positiv über den chinesischen Friedensplan für die Ukraine äußerte. Im März 2023 drohte der ungarische Außenminister Péter Szijjártó, weitere EU-Hilfen für die Ukraine zu blockieren, sollte eine ungarische Bank, die der Regierung nahesteht, nicht von Kyjiws Liste von internationalen Kriegssponsor*innen gestrichen werden.

Wie lange die Beziehungen zwischen China und den V4-Staaten weiter abkühlen werden, ist kaum vorherzusehen. Klar ist jedoch, dass die Länder der Region durch die russische Aggression dazu gezwungen wurden, ihre außenpolitischen Orientierungen zu überdenken, und sich im Hinblick auf ihre Chinapolitik ein tiefer Abgrund zwischen Ungarn und den übrigen Mitgliedern der Visegrád-Gruppe aufgetan hat. So lange Ungarn weiter einen Weg verfolgt, den die anderen drei Länder als gefährlich und verantwortungslos betrachten, wird auch in Zukunft nichts Anderes zu erwarten sein.


Dr. Tamás Peragovics ist Research Fellow am Institut für Weltwirtschaft (Zentrum für wirtschaftliche und regionale Studien) in Budapest, Ungarn, und Assistenzprofessor in Teilzeit am Institut für Internationale Beziehungen der Eötvös-Loránd-Universität (ELTE). Aktuell ist er im Rahmen des Projekts De:link//Re:link Gastwissenschaftler am ZOiS.