Das Ende des Postsowjetischen
„Während der Sowjetunion…“ („При советском союзе…“) – diese oft nostalgische Rückblende hörte ich regelmäßig während meiner Forschung in den letzten Jahren. Meine Gesprächspartner*innen sind hauptsächlich Händler*innen auf Groß- und Einzelhandelsmärkten von Odesa bis Bischkek. Da die sowjetische Vergangenheit als sinnstiftende Kategorie Orientierung in der Gegenwart bot, erschien mir in meiner Arbeit der Begriff des Postsowjetischen auch 30 Jahre nach deren Ende noch begründet. Die Periodisierung in „während der Sowjetunion“ und „nach dem Zerfall“ bringt Erfahrungen und Erwartungen zum Ausdruck. Diese sind sowohl von persönlichen als auch von politischen, sozialen und wirtschaftlichen Krisen geprägt. In den Sozial- und Geschichtswissenschaften wird das Attribut „postsowjetisch“ schon lange kontrovers diskutiert. Einige argumentieren, dass der Begriff gerade wegen der kollektiven Transformationserfahrung der damit lose zusammengefassten Länder analytisch legitimiert werden kann. Andere kontern dagegen, dass „postsowjetisch“ längst nicht mehr nur einen Zeitabschnitt in der Geschichte beschreibt, sondern auch zu einem ideologischen Vergleichspunkt wurde, der das binäre Verhältnis zwischen kapitalistischem Westen und sozialistisch-kommunistischem Osten in der Tradition des „Anderen“ reproduzierte.
Transformationserfahrung und sowjetische Nostalgie
Viele meiner Gesprächspartner*innen auf den Märkten, gerade die ältere Generation, hatten im Zusammenhang mit dem Zerfall der Sowjetunion ihre Arbeit verloren oder aufgegeben und verdienen seitdem auf Straßenmärkten durch den Verkauf billiger Importwaren ihren Lebensunterhalt. Nicht wenige hatten „während der Sowjetunion“ ein Studium absolviert und teils noch als Lehrer*innen, Ingenieur*innen oder Buchhalter*innen gearbeitet. Mit dem Zerfall der Sowjetunion endeten nicht nur viele professionelle Biographien, sondern auch eine Ära der sozialen Absicherung. Die 1990er Jahre waren im gesamten postsowjetischen Raum geprägt von Kriminalität, Konsumkapitalismus und Armut, sowie einer rapide wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich. Ausgelöst wurden diese durch die Entfesselung individueller Profitinteressen in Verbindung mit Deindustrialisierung und Privatisierung. Westlichen Transformationstheorien zufolge sollte auf eine kurze Phase der Schocktherapie der wirtschaftliche Aufschwung folgen, indem die vormalige Plan- zur Marktwirtschaft umgebaut und schließlich voll in die globale Kapitalzirkulation eingegliedert wird. Heute wird dieser vermeintliche Siegeszug des Liberalismus mitunter für die andauernde politische Instabilität, soziale Ungleichheit und den Ressourcenraubbau in den betroffenen Regionen mitverantwortlich gemacht.
Auf dem 7Km Markt in Odesa (der Markt liegt ca. 7km außerhalb der Stadt) betont vor allem die Generation 50+ die Beständigkeit des sozialistischen Wohlfahrtsstaates im Gegensatz zum darauffolgenden moralischen und sozialwirtschaftlichen Niedergang. In der sprachlich und demographisch stark russisch geprägten Schwarzmeerstadt projizierte sich die positive Erinnerung an die sowjetische Vergangenheit oft auf eine prorussische Haltung, aus der heraus die Gegenwart bewertet wurde. Strukturell gehören Händler*innen sowohl zu den Gewinner*innen als auch den Verlierer*innen der Transformation. Manche erwirtschafteten große Reichtümer durch den halblegalen Verkauf billiger Importwaren in den von Mangel geprägten Transformationsökonomien. Diejenigen, die bis heute auf den Märkten arbeiten, können von einem solchen Vermögen oft nur träumen. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung galt die Sowjetunion, gerade für letztere, als wichtiger Referenzpunkt und Projektionsfläche für eine vergangene Ordnung
Der russische Präsident Wladimir Putin hat in jahrelanger minutiös dirigierter Propaganda genau diesen erlebten Gegensatz aus sowjetischer Ordnung und postsowjetischer Instabilität für sich und seine imperialen Fantasien genutzt. In seinem polarisierenden Narrativ ist das Sowjetische ein zentrales Motiv, das eine moralische Überlegenheit zum degradierten Westen ermöglicht. Indem immer wieder das Bild des Verlustes beschworen wurde, konnte die Sehnsucht nach Wiederherstellung aufrechterhalten werden. Was aber geschieht, wenn liebgewonnene Orientierungspunkte wie die persönliche Erinnerung an eine von Moskau dominierte Sowjetunion mit einem von Moskau gesteuerten Angriffskrieg konfrontiert werden?
Vom Ende der Nostalgie und dem Krieg als identitätsstiftendes Moment
In Gesprächen und Chats mit Händler*innen aus Odesa erklären mir einige der ehemaligen Sowjetnostalgiker*innen, dass sie bis zuletzt nicht glauben wollten, dass Russland zu so etwas in der Lage sei. Während meines Forschungsaufenthalts in Odesa 2021 traf ich trotz des seit 2014 andauernden Krieges im Osten der Ukraine und der Annexion der Krim auf wenig ausgesprochene Russlandkritik. Das ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass der Wegfall von Kund*innen aus diesen Regionen zu massiven Einbußen und zahllosen Insolvenzen unter Markthändler*innen führte. Die Äußerungen, die ich antraf, waren differenziert und zeigten sich gleichermaßen kritisch gegenüber idealisierenden proeuropäischen oder prorussischen Positionen. Die meisten plädierten für ein pragmatisches Verhältnis zum Nachbarland und hofften auf bessere Beziehungen in der Zukunft. Seit Ende Februar 2022 ist diese Hoffnung unter meinen Gesprächspartner*innen oft unverhohlenem Hass gewichen. Ein Hass, der sich nicht mehr nur gegen die russische Regierung, sondern gegen alles Russische, inklusive der „einfachen Russen“ richtet. Ohne Zweifel hat die überwältigende Unterstützung des Krieges in der Bevölkerung des Nachbarlandes und die Kriegsverbrechen russischer Soldaten in der Ukraine eine Normalisierung der russisch-ukrainischen Beziehungen auf lange Sicht zerstört.
Der Krieg bringt Erfahrungen mit sich, die den Blick auf die Zukunft und die Beschreibung der Vergangenheit maßgeblich beeinflusst. Viele meiner Gesprächspartner*innen aus der Ukraine sprechen von dem Krieg als Zäsur, die trotz aller Zerstörung auch etwas Großes hervorgebracht hat, nämlich das Gefühl, als Nation geeint zu sein, mit Stolz auf die kollektive Widerstandskraft als verbindendes Moment. Diese Umorientierung des Zugehörigkeitsgefühls, vor allem unter denjenigen, die sich lange Zeit als Skeptiker*innen der postsowjetischen Entwicklungen in der Ukraine bezeichnet hatten, zeichnet sich auch in Umfragen ab. Nicht nur stieg die Zahl derjenigen, die den aktuellen Kurs der ukrainischen Politik befürworten von 25 auf 77 Prozent im März 2022, auch der Anteil derer, die das Ende der Sowjetunion als einen Fehler bezeichneten, hat sich mit noch 46 Prozent im Jahr 2010 auf nur 11 Prozent in diesem Jahr deutlich verringert. Die sowjetische Vergangenheit wird gleichzeitig auch als russisch dominiert wahrgenommen, was für viele spätestens seit Kriegsbeginn in unmittelbare Verbindung mit Russland als Feind gebracht wird. Das Bedürfnis vieler Ukrainer*innen, sich von der gemeinsamen sowjetischen Vergangenheit abzugrenzen, wird noch verstärkt durch die Tatsache, dass Russland diese als Propagandamittel für einen Krieg verwendet, der nicht als solcher bezeichnet werden darf.
Sprachpolitik und Verantwortung
Begriffe sind nicht harmlos, sondern wirkungsmächtig. Wer die Ukraine nach Einmarsch der russischen Armee immer noch als postsowjetisch einstuft, spielt damit dem russischen Propagandanarrativ in die Hände. Der Krieg funktioniert auch als identitätsstiftendes und epochenmachendes Moment. Meine Gesprächspartner*innen in Odesa wollen von ihrer prorussischen Haltung nichts mehr wissen. Sie haben den ersten Schock überwunden, denken stolz über sich selbst als Ukrainer*innen und verzeitlichen ihre Erfahrungen und Erwartungen in ein Leben „vor dem Krieg“, „in Zeiten des Krieges“ und „nach dem Krieg“. „Während der Sowjetunion“ hat demnach als identitätsstiftende Kategorie in der Ukraine weitgehend ausgedient. Diese Wende muss nicht zuletzt auch Konsequenzen für den akademischen Diskurs haben, der „postsowjetisch“ bislang teils noch als analytisches und beobachtbares Konzept legitimiert. Es bleibt zu hoffen, dass sich zukünftig präzisere und differenziertere Begriffe finden, die die Bezeichnung der ehemaligen Sowjetrepubliken als „postsowjetischer Raum“ endgültig als überholt und sprachpolitisch problematisch entlarven.
Claudia Eggart ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Teil des Projekts „Zwischenräume leben: Individuelle Anpassungsstrategien und Erwartungshorizonte in der Ukraine und Moldau (LimSpaces)“ am ZOiS. Daneben promoviert sie an der Universität Manchester.