Der Tag des Sieges 2022: Gedenken im Zeichen des Krieges
Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking.
Am 24. Februar 2022 verkündete der russische Präsident eine umfassende Invasion der Ukraine. Von Beginn an rechtfertigte Wladimir Putin diesen Eintritt in eine neue Phase des anhaltenden Kriegs in der Ukraine mit einer verlogenen Version der Geschichte. Seien es fadenscheinige Beschwörungen der Einheit von Russ*innen und Ukrainer*innen oder die Behauptung, die Ukraine sei nicht mehr als eine irregeleitete Erfindung der leninistischen Bolschewiki gewesen, – Putin bedient sich alternativer Versionen der Geschichte, um einen Angriffskrieg zu entfesseln und Gräueltaten zu verüben.
Im Zuge der Vorbereitung und Rechtfertigung dieser Aggression verbog Putin die nationale Mythologie des Großen Vaterländischen Krieges, die ein Fundament des politischen Russlands bildet. Stattdessen stellte er sie in den Dienst derselben Art von Aggression, die vor 75 Jahren zu ihrer Entstehung führte. Dadurch hat die Interpretation des Krieges für Russland eine existenzielle Bedeutung angenommen. Würde Russland die begangenen Gräueltaten einräumen, würde das die Grundlagen der nationalen Identität des Landes untergraben.
Der Große Vaterländische Krieg und die russische Identität
Die Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges von 1941 bis 1945 ist die tragende Säule der kollektiven Identität des modernen Russlands. Die Art und Weise, wie die Menschen in Russland über sich selbst als Volk denken, wird Umfragen zufolge an erster Stelle durch ihre Geschichte bestimmt. Innerhalb dieser Geschichte ist der Sieg im Zweiten Weltkrieg mit überwältigendem Abstand das wichtigste Ereignis für die Russ*innen, das sie am meisten mit Stolz erfüllt und über das sie am meisten wissen. Umfragen, die der Autor dieses Textes im Jahr 2021 durchgeführt hat, machen deutlich, dass die Erinnerung an den Krieg über verschiedene Bruchlinien innerhalb der russischen Gesellschaft hinweg für die Menschen von zentraler Bedeutung ist (Grafik 1).
Grafik 1: Die zentrale Bedeutung des Großen Vaterländischen Krieges für die russische Geschichte und Identität
Die zentrale Bedeutung der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges für die kollektive Identität der Russ*innen ist in nicht geringen Teilen den Bemühungen ihres Chefhistorikers Wladimir Putin zu verdanken. In den letzten zwei Jahrzehnten hat er sich der geballten Macht des Staates bedient, um einen von allen Makeln befreiten Siegeskult zu erschaffen und den Tag des Sieges am 9. Mai wieder in eine politische Ressource ersten Ranges zu verwandeln. Nur wenige Tage nach seiner ersten Amtseinführung als Präsident im Jahr 2000 beging Putin vor dem Lenin-Mausoleum auf dem Roten Platz in Moskau den 55. Jahrestag des Sieges. Damals zählten dem Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum zufolge lediglich 34 Prozent der Russ*innen den Tag des Sieges zu den drei wichtigsten Feiertagen ihres Landes. Mittlerweile wird er gemeinhin als wichtigster Feiertag im russischen Kalender angesehen. Bei einer 2021 durchgeführten Umfrage des Allrussischen Zentrums für die Erforschung der Öffentlichen Meinung (WZIOM) gaben 69 Prozent der Befragten an, dass er einer der drei wichtigsten Feiertage für sie sei.
Während die relative Bedeutung des Tags des Sieges in Russland in den letzten zwei Jahrzehnten gestiegen ist, haben sich auch die Gefühle der Menschen gegenüber dem Sieg und den Errungenschaften der Roten Armee gewandelt. Nach Russlands illegaler Annexion der Krim im Jahr 2014 stieg die Anzahl an Menschen, die den 9. Mai mehr mit Siegesfreude als mit Trauer über die Millionen Opfer des Krieges assoziieren, dramatisch an. Außerdem nahm kurzzeitig die Anzahl an Menschen zu, die den Sieg als einen Triumph der Ideen von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten über den Faschismus sahen – eine tragische Ironie, wenn man bedenkt, dass der Große Vaterländische Krieg herangezogen wird, um Russlands aktuelle Invasion und Besetzung der Ukraine zu unterstützen, und angesichts der Russland vorgeworfenen Kriegsverbrechen.
Vor und nach dem Tag des Sieges durchgeführte Umfragen unter Russ*innen erlauben es, diese Trends und die Zusammenhänge zwischen den aktuellen Ereignissen und den Einstellungen der Menschen in Russland gegenüber verschiedenen historischen Narrativen gründlicher zu untersuchen. So steigt zum Beispiel seit 2014 der Anteil der Befragten, die der Meinung sind, dass die Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges in den Massenmedien wahrheitsgemäß dargestellt werde. Die schlichte Tatsache, den Tag des Sieges gerade erst gefeiert zu haben, führte im Vergleich zu einer eine Woche vorher befragten Kontrollgruppe über alle politischen Lager hinweg zu einem im Durchschnitt höheren Vertrauen in die Darstellung des Krieges in den Massenmedien (Grafik 2).
Grafik 2: Vertrauen in die mediale Darstellung des Großen Vaterländischen Krieges
Aufgrund des wieder aufgeflammten Konflikts befinden sich Putins Beliebtheitswerte momentan, ähnlich wie schon 2014, auf einem Höhenflug. Die meisten Russ*innen sind der Meinung, dass das Land sich in die richtige Richtung entwickelt. Diese Umfrageergebnisse lassen vermuten, dass wir am kommenden Tag des Sieges ein Gedenken erleben werden, das durch übersteigerten Patriotismus und neue Begeisterung für eine bereinigte Version des Krieges geprägt sein wird.
Russland auf dem Weg zu Radikalisierung
Kollektive Identitäten, aktuelle Ereignisse und die politische Kommunikation prägen das kollektive Gedächtnis, während geteilte Erinnerungen ihrerseits die kollektive Identität von Gruppen prägen – unter Umständen kann so ein gefährlicher Teufelskreis entstehen. Sowohl Russland als auch die Ukraine interpretieren, was auf den Schlachtfeldern von heute geschieht, vor dem Hintergrund des Großen Vaterländischen Kriegs. Neue nationale Mythologien werden in Echtzeit erschaffen. Die Ukraine scheint entschlossen, mit einer gestärkten nationalen Identität aus diesem Konflikt hervorzugehen, die im Angesicht eines weiteren imperialen Angriffskriegs die historische Einheit und Kontinuität des Landes beschwört.
Russland scheint hingegen in einer Radikalisierungsspirale gefangen. Unfähig, im Hinblick auf ihre eigenen Interpretationen der Geschichte Kompromisse einzugehen, und einem historischen Gedächtnis verhaftet, das sich von dem ihrer früheren europäischen Verbündeten bereits deutlich unterscheidet, heizt die politische Führung Russlands diese Spirale weiter an, anstatt sie zu durchbrechen. Wahrscheinlich wird dieser Trend die rasende Wut der russischen Medien und die selbsterfüllende Prophezeiung der russischen Führung, einen zivilisatorischen Kampf zu führen, weiter befeuern.
Travis C. Frederick ist Doktorand in öffentlichen und internationalen Angelegenheiten an der Princeton University. Aktuell ist er Gastwissenschaftler am ZOiS.