ZOiS Spotlight 20/2023

Die Pro-Kriegs-Mobilisierung russischsprachiger Communities in Deutschland

Russlands Einmarsch in die Ukraine wurde von einigen russischsprachigen Gemeinschaften in Deutschland begrüßt. Social-Media-Plattformen, allen voran Telegram, haben bei der Mobilisierung für den Krieg eine zentrale Rolle gespielt. Der Online-Kommunikation folgten auch Offline-Aktionen wie öffentliche Kundgebungen.

Die Social-Media-Plattform Telegram spielt eine zentrale Rolle bei der Pro-Kriegs-Mobilisierung russischsprachiger Communities in Deutschland. IMAGO / NurPhoto

Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking.

Russlands Invasion der Ukraine 2022 hatte beträchtliche Auswirkungen auf die Communities russischsprachiger Migrant*innen in Deutschland. Sie brachte innerhalb dieser Communities Solidaritätsnetzwerke hervor, die zum Ziel hatten, ukrainische Geflüchtete zu unterstützen und die militärische Aggression Russlands zu verurteilen. Allerdings führte die Invasion auch zu einer besorgniserregenden Welle einer Pro-Kriegs-Mobilisierung, die sich in öffentlichen Demonstrationen äußert, einschließlich Auto- und Motorradkorsos, sowie Feierlichkeiten anlässlich des russischen Tags des Sieges am 9. Mai.

Diese öffentlichen Demonstrationen stützen sich auf ein vielschichtiges Narrativ, das Behauptungen einer Aggression der NATO gegenüber Russland sowie eindringliche Forderungen nach einem Ende der Waffenlieferungen an die Ukraine umfasst. Die Mobilisierung vereint Akteure aus dem gesamten politischen Spektrum, einschließlich rechtsextremen und linksradikalen Gruppen, die dafür werben, die internationale Unterstützung für die Ukraine einzustellen und Kyjiw im Namen des Friedens zur Kapitulation zu drängen. Soziale Medien haben entscheidend dazu beigetragen, dass diese Netzwerke entstehen und an Einfluss gewinnen konnten. Sie bieten gleichgesinnten Nutzer*innen einen Raum, um sich vor dem Hintergrund geteilter Identitäten zusammenzufinden und ein Gefühl der Zugehörigkeit zu erzeugen, insbesondere der Zugehörigkeit zu einem imaginierten Heimatland. Diese Plattformen spielen eine wichtige Rolle dabei, Identitäten zu konstruieren, eine Community aufzubauen und Informationen in Umlauf zu bringen.

Die zentrale Rolle von Telegram

Eine der relevantesten unter den verschiedenen Plattformen ist Telegram. In russischsprachigen Diskursen über den Krieg spielt die Messenger-App eine ambivalente Rolle. Angesichts der immer strengeren Zensur in Russland bietet sie alternative Informationsquellen und stellt Antikriegsinitiativen in und außerhalb Russlands eine Kommunikationsplattform zur Verfügung. Allerdings stellt die App gleichzeitig sowohl inhaltlich als auch im Hinblick auf dessen Akteure einen integralen Bestandteil des hybriden russischen Mediensystems dar. Telegramkanäle von Kriegsbefürworter*innen schafften es, eine hohe Anzahl von Abonnent*innen anzusammeln. Als Reaktion auf einen gefühlten Anstieg der „Russophobie“ in westlichen Ländern nutzten viele russischsprachige Menschen in Deutschland Telegram, um mit der offiziellen Rhetorik Russlands übereinstimmende Kanäle aufzubauen, eine spaltende und zuweilen diskriminierende Rhetorik zu normalisieren und Demonstrationen zu organisieren.

Dass Telegram eine solche Anziehungskraft auf russischsprachige Migrant*innen in Deutschland ausübt, beruht auf den Möglichkeiten, die die App bietet. Mit ihr lassen sich Verbindungen zwischen Familienmitgliedern und Freund*innen über Grenzen hinweg aufrechterhalten, im neuen Land das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer größeren Gemeinschaft stärken und Zugang zu kulturellen Ressourcen zu erhalten. Weil Telegram die Kommunikation von Individuen untereinander mit der Kommunikation zwischen dem Einzelnen und einer größeren Gruppe verbindet, fördert die App eine gewisse Politisierung. Sie eröffnet einen Zugang zu Narrativen, die den Krieg befürworten, und befördert die Positionierung von Migrant*innen als einer Minderheit. Deutsche Medienräume werden indes als übermäßig liberal und entfremdend erlebt.

In ihrer Größe variieren die Telegram-Gruppen von Kriegsbefürworter*innen in Deutschland sehr stark, von kleinen Gruppen bis hin zu Kanälen mit zehntausenden Mitgliedern. Die Kanäle lassen sich in drei verschiedene Kategorien einteilen: Nachrichtenkanäle, Graswurzel-Communitychats und Kanäle von Influencer*innen. Es zeigen sich zwar gewisse Unterschiede in den Auffassungen der Gruppen zu bestimmten Themen, wie zum Beispiel der Frage, ob Verhandlungen nötig seien, um dem Konflikt ein Ende zu bereiten. Allerdings geben ihre Narrative überwiegend dem „kollektiven Westen“ und Deutschland die Schuld dafür, den Krieg entfacht zu haben und die Ukraine mit Waffen zu versorgen.

Darüber hinaus haben diese Kanäle zu einem Zugehörigkeitsgefühl unter russischsprachigen Menschen in Deutschland beigetragen, indem sie deren an Russland orientierte Diasporaidentitäten in den Vordergrund stellen. Damit waren sie eine entscheidende Vorstufe zu den darauffolgenden Offline-Mobilisierungen, zu denen zum Beispiel Demonstrationen gegen die NATO oder Aufrufe an die Ukraine gehörten, dem Krieg ein Ende zu setzen, indem sie sich ergibt oder Teile ihres Territoriums aufgibt. Telegramkanäle machen sich Desinformationsstrategien zunutze, indem sie sachliche Informationen heranziehen, um Interpretationen zu verzerren, und Fake News verbreiten, indem sie zunächst fabrizierte Inhalte präsentierten.

Einfluss auf die politische Landschaft

In anderen Fällen fördern die Kanäle eine bestimmte Agenda, um Einfluss auf die politische Landschaft in Deutschland zu nehmen. So wird etwa die rechtsextreme Alternative für Deutschland oder das geplante Parteiprojekt der Linkenpolitikerin Sahra Wagenknecht unterstützt, das versucht, konservative und nationalistische Segmente innerhalb der Wählerschaft der Partei Die Linke zu mobilisieren. Abgesehen davon, dass sie sich an unzufriedene Wähler*innen richten, verbreiten beide politischen Projekte eine tiefgreifende Kritik an der liberalen Demokratie, die sich vermeintlich zu stark auf Minderheiten konzentriere und nicht die eingebildete Mehrheit der sogenannten normalen Leute vertrete.

Diese Auffassung deckt sich mit der Rhetorik der prorussischen Telegramkanäle, die Deutschlands politische Eliten als schwach darstellen und ihnen vorwerfen, ihre eigene Agenda und Loyalität gegenüber der NATO über Deutschlands nationale Interessen zu stellen, zum Beispiel durch ihre Unterstützung der Sanktionen gegen Russland. Lediglich Berlins Zurückhaltung, der Ukraine schwere Waffen zu liefern und sich für die Einführung europaweiter Visabeschränkungen für russische Staatsbürger*innen einzusetzen, wurde auf diesen Kanälen positiv kommentiert.

Die hybride Form der Mobilisierung

Lässt sich aus den Inhalten der Telegramkanäle und ihren Kontinuitäten mit Russlands eigenen hegemonialen Narrativen über den Krieg also schließen, dass diese Kanäle lediglich dazu dienen, unter den Migrant*innen staatlich geförderte Propaganda zu verbreiten? Es gibt drei Gründe, warum das Gesamtbild etwas komplizierter ist.

Erstens gibt es einige russischsprachige Migrant*innen, die der russischen Propaganda nicht deshalb ausgesetzt sind, weil diese sich direkt an sie richten würde, sondern weil sie Inhalte konsumieren, die in erster Linie für die Menschen in Russland selbst gedacht sind. Die Kanäle von Migrant*innen, die den Krieg unterstützen, tragen zu diesem transnationalen Übertragungseffekt bei. Zweitens thematisieren die Kanäle die besondere Position konservativer postsowjetischer Migrant*innencommunities in Deutschland, wo sowohl Russland als auch Deutschland emotional aufgeladene Pole der Identifikation darstellen. Drittens mag es sich zwar bei manchen Mitgliedern dieser Telegramkanäle um Trolle oder Bots handeln, die vom russischen Staat eingesetzt werden, um eine bestimmte Agenda voranzutreiben, jedoch trifft dies mit Sicherheit nicht auf alle zu. Der Übergang von Onlinenetzwerken zu Offlinedemonstrationen macht deutlich, welchen Einfluss Gruppen in den sozialen Medien bei der Mobilisierung von Teilnehmer*innen besitzen. Die Kommunikationsräume, in denen die Mobilisierung stattfindet, haben somit einen in doppelter Hinsicht hybriden Charakter, da sie sich nicht nur zwischen Russland und Deutschland erstrecken, sondern auch zwischen Online- und Offlineaktivitäten.


Dr. Tatiana Golova ist Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS.

Liliia Sablina ist Politikwissenschaftlerin und Doktorandin an der Doctoral School of Political Science, Public Policy, and International Relations der Central European University in Österreich.