Die Ukrainer*innen Kasachstans: Besorgt, aber neutral?
Über die Ukrainer*innen in Kasachstan ist wenig bekannt, dabei waren sie lange eine der größten ukrainischen Diasporagruppen weltweit. Das Zusammenleben mit russischen Mitbürger*innen im Vielvölkerstaat prägt ihre Haltung zum Krieg gegen die Ukraine. Diese unterscheidet sich von ukrainischen Communities anderswo.
Die russische Invasion in die Ukraine hat sowohl in Kasachstan, als auch in Westeuropa ein verstärktes Interesse an den russischen Bürger*innen des Landes und ihrer Haltung zum Krieg, aber auch an den „Relokanty“, den vor dem Krieg und einer drohenden Mobilisierung dorthin geflohenen russischen Staatsbürger*innen, hervorgerufen. Über die ebenfalls in Kasachstan lebenden Ukrainer*innen, nach offiziellen Zahlen die viertgrößte Ethnie des Landes und bis 2022 eine der weltweit größten ukrainischen Diasporagruppen, ist dagegen wenig bekannt. Wer sind diese Menschen? Wie stehen sie zum Krieg und was bedeutet das für Kasachstan?
Schwache ethnische Identität
Ukrainer*innen kamen seit dem Ende des 19. Jahrhundert in der Masse als Bäuer*innen oder Industriearbeiter*innen, aber auch Deportierte, in mehreren Wellen nach Kasachstan. 1926 stellten sie sogar 13,8 Prozent der Bevölkerung, 2021 waren es nur noch zwei Prozent (ca. 387.000 Personen). Es wird geschätzt, dass nur ungefähr die Hälfte von ihnen in Kasachstan geboren ist. Viele haben noch familiäre Verbindungen in die historische Heimat. Selbst ukrainische Aktivist*innen bezeichnen ihr Gemeinschaftsgefühl als gering. Die ethnische Identität als Ukrainer*innen ist schwach ausgeprägt, vor allem, weil sie sich weder in der Sowjetzeit noch nach der Unabhängigkeit Kasachstans von der viel größeren russischen Bevölkerungsgruppe (2021: ca. 3 Millionen) abgegrenzt haben. Ganz typisch sind die Aussagen einer in einer ukrainischen Organisation aktiven Seniorin 2023: „Ob Russe oder Ukrainer, darüber wurde früher nie geredet.“ Eine andere ergänzt: „Ukrainer, Russen und Belarusen sind ein Volk.“ Im Denken der Sowjetzeit wirkte hier ein Verständnis als zusammengehörige kulturbringende Europäer*innen. Nach der Unabhängigkeit gab es gemeinsame Befürchtungen, ausgegrenzt und kasachisiert zu werden.
In Kasachstan gilt heute der Masse der Bevölkerung die Kenntnis der Muttersprache als zentrales Element der ethnischen Identität. 2021 gaben aber nur 19,9 Prozent der Staatsbürger*innen, die sich beim Zensus als Ukrainer*innen definiert hatten, an, dass Ukrainisch ihre Muttersprache sei. Die russische Annexion der Krim 2014 und der Krieg im Osten der Ukraine stellten die Ukrainer*innen Kasachstans erstmals vor die Frage, ob und wie sie sich bei einem Konflikt zwischen Russland und der Ukraine positionieren sollten und inwiefern ihr Verhältnis zu ihren russischen Mitbürger*innen davon betroffen sein könnte. Die Antworten trugen offenbar nicht zur Förderung einer eigenen ethnischen Identität bei. Einer ihrer wenigen ethnischen Identifikationsfaktoren ist der ukrainische Poet und Maler Taras Schewtschenko (1814-1861), der für zehn Jahre nach Kasachstan verbannt war und dessen Denkmal in Almaty Zentrum des Gedenkens sowie heute auch der Solidaritätsbekundungen für die Ukraine ist.
Positionen zum Krieg
Die geringe ethnische Identifizierung und Abgrenzung von ihren russischen Mitbürger*innen findet heute ihren Ausdruck in der Positionierung vieler kasachstanischer Ukrainer*innen zum Krieg. Da in den bislang wenigen Meinungsumfragen zu diesem Thema nur Russ*innen und Kasach*innen befragt wurden, gibt es allerdings keine belastungsfähigen quantitativen Daten zu dieser Frage. Die folgenden Überlegungen beruhen auf diversen Gesprächen aus den Jahren 2023 und 2024 in Almaty und Astana, ergänzt durch Online-Medien.
„Wir machen uns alle Sorgen um unsere Angehörigen in der Ukraine, aber über den Krieg reden wir nicht, das würde zu Streit und Trennung führen.“ und „Ich bin neutral.“ Diese beiden Aussagen scheinen typisch für kasachstanische Ukrainer*innen. Offensichtlich gibt es sowohl proukrainische als auch prorussische Stimmen; viele positionieren sich jedoch gar nicht. Damit unterscheiden sich die Ukrainer*innen Kasachstans stark von den klar proukrainischen großen alten ukrainischen Diasporagemeinschaften in Staaten wie Kanada, den USA oder Polen. Vermeidung des Themas und Neutralität sind vielmehr Haltungen, die oft auch von ihren kasachischen und russischen Mitbürger*innen vertreten werden.
Ausgehend von den Ergebnissen der Meinungsumfragen unter diesen beiden Gruppen kann man zudem eine besondere Anfälligkeit der Ukrainer*innen für prorussische Positionen vermuten. Ganz unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit war diese Einstellung unter Nutzer*innen der unter russischsprachigen Kasachstaner*innen sehr verbreiteten russländischen TV-Sender besonders hoch – Fernsehen gilt als Informationsquelle der älteren Generation und die Ukrainer*innen Kasachstans sind eine auffällig stark überalterte Bevölkerungsgruppe. Fernsehsender aus der Ukraine sind in Kasachstan linear nicht zu empfangen.
Allen Ukrainer*innen gemeinsam ist die Betroffenheit über Opfer und Zerstörungen in ihrer historischen Heimat. Einige kritisieren aber auch Entwicklungen in der Ukraine, wenn zum Beispiel von als unangenehm empfundenem ukrainischen Nationalismus beim letzten Besuch die Rede ist. Es sind Äußerungen zu hören wie: „Traurig, was aus der Ukraine geworden ist, dabei hatte sie doch so gute Voraussetzungen“, oder: „Man hätte den russischen Bären nicht provozieren dürfen.“
Folgen für Kasachstan
Zwar gibt es vereinzelt Berichte, dass langjährige ukrainische und russische Nachbar*innen plötzlich nicht mehr miteinander geredet hätten, insgesamt scheint der Krieg jedoch wenig Auswirkungen auf die für einen multinationalen Staat wie Kasachstan so wichtigen friedlichen interethnischen Alltagsbeziehungen zu haben. Etwas anders sieht es mit der Haltung der Ukrainer*innen gegenüber den russischen Relokanty aus, die eher gemieden werden. Zugleich berichten ukrainische Geflüchtete, von Relokanty beleidigt worden zu sein.
Anders als im Fall der Tschetschenienkriege vor über zwanzig Jahren wirken die familiären Verbindungen der Ukrainer*innen in das Kriegsgebiet nicht als Magnet für Flüchtende. Zwar sollen überwiegend Menschen gekommen sein, die bereits persönliche Kontakte in Kasachstan hatten, der lange und teure Weg nach Einstellung direkter Flugverbindungen verhinderte aber eine Massenbewegung. Ende 2022 war von knapp 7.000 Geflüchteten die Rede. Zum gleichen Zeitpunkt befanden sich ca. 5 Millionen ukrainische Geflüchtete in Europa.
Kasachstan hat nach der russischen Invasion in die Ukraine international eine möglichst neutrale, aber nicht gegen die Russische Föderation gerichtete Position eingenommen. Öffentliche Proteste oder auch prorussische Stellungnahmen speziell von Ukrainer*innen sind nicht bekanntgeworden. Vor allem im Frühjahr 2022 gab es mehrfach vom Regime nicht sanktionierte proukrainische Demonstrationen, an der sich in der Masse Kasach*innen, aber auch eine nicht zu verifizierende Zahl jüngerer Ukrainer*innen beteiligten. Das gleiche gilt für eine (inzwischen verebbte) Spendenwelle für die Ukraine.
Der Krieg in der Ukraine hat also nur eine gering mobilisierende und kaum identitätsbildende Wirkung auf die kasachstanischen Ukrainer*innen und führt nicht zu größeren Spannungen mit ihren russischen Mitbürger*innen. Stattdessen scheint sich eher eine Haltung abzuzeichnen, die zwischen den in Kasachstan lebenden Ethnien und den Staaten Ukraine bzw. Russische Föderation und ihren Bürger*innen unterscheidet. Das würde bedeuten, dass auch die Haltung der kasachstanischen Russ*innen weniger prorussisch ist, als heute in der zunehmend emotionalen Debatte behauptet wird. Das, wie auch die Fragen, inwiefern staatliche Nationalitätenpolitik oder z.B. Angst vor Repression eine Rolle bei der Positionierung von Ukrainer*innen wie Russ*innen Kasachstans spielt, bedarf weiterer Forschung vor allem auch im Norden des Landes.
Dr. Beate Eschment ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS und Expertin für Zentralasien.