ZOiS Spotlight 31/2022

Die Vielfalt der postsowjetischen Linken in Georgien

Von Veronika Pfeilschifter 05.10.2022
"Nein zu Riesendämmen": Protest gegen ein Wasserkraftwerk im Rionital im Nordwesten Georgiens im März 2021. Mariam Nikuradze / OC Media

Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking.

Wie in vielen postsowjetischen Staaten ist auch in Georgien seit Mitte der 2000er-Jahre eine neue Generation von linken Intellektuellen, Aktivist*innen, Organisator*innen, Arbeiter*innen und Künstler*innen herangewachsen. Diese Linke umfasst ein breites ideologisches Spektrum vom Marxismus-Leninismus über sozialdemokratische Ideen bis hin zu einem grünen Antikapitalismus oder feministischer Geschlechterdemokratie. Politisch marginalisiert, gering an der Zahl und entweder gespalten oder nur lose organisiert, haben diese linken Gruppen und Individuen die Mechanismen hegemonialer Marktliberalisierung und die Reproduktion sozialer Ungleichheiten hinterfragt, ihnen Widerstand geleistet und versucht zu intervenieren.

Die Entwicklung der postsowjetischen Linken in Georgien

Die neue postsowjetische Linke in Georgien setzte sich anfänglich vor allem aus jungen Menschen zusammen, von denen viele bis heute politisch aktiv sind. Was als „links“ verstanden wird, hat jedoch mit der Zeit einen Wandel durchlebt. Wurde darunter früher eine Haltung verstanden, die sich vor allem gegen Neoliberalismus und Autoritarismus wandte, gibt es mittlerweile ein breiteres, positives Verständnis des Begriffs. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoller, von „Linken“ im Plural zu sprechen, wenn wir linke Strukturen und Stimmungen in Georgien analysieren.

Das Aufkommen einer postsowjetischen Linken lässt sich als Gegenreaktion auf den von Gewalt geprägten wirtschaftlichen Zusammenbruch nach dem Ende der Sowjetunion verstehen, der gesellschaftliche Ungleichheiten erzeugt hat, die bis heute das Kernanliegen des politischen Engagements und Kampfs der georgischen Linken bilden. Das ist eins der Ergebnisse meiner im September 2022 in Tiflis durchgeführten Feldforschung. In ihrem Rahmen habe ich Linke befragt, die sich zum Teil selbst als Linksliberale, Sozialist*innen, Sozialdemokrat*innen, Marxist*innen, Kommunist*innen oder sozialistische Feminist*innen identifizieren, zum Teil aber auch nur soziale Erfahrungen als treibende Kraft ihres Aktivismus beschreiben, ohne ihm ein bestimmtes Label verpassen zu wollen.

Im Jahr 2011 gründeten Studierende der Staatlichen Universität Tiflis mit Laboratoria 1918 die erste Organisation der postsowjetischen Linken in Georgien. Laboratoria 1918, die unter anderem aus einer kleinen Übersetzungsgruppe hervorging, protestierte gegen Bildungsungleichheit und versuchte zukunftsgewandte, postsowjetische Formen des Sozialismus nach und nach von der sozialistischen Vergangenheit Georgiens in der Sowjetunion abzulösen. Ihre fünf Jahre später gegründete Nachfolgeorganisation Auditorium #115 setzte diese Tradition fort und bemühte sich verstärkt mit sozialen Themen wie Arbeiter*innenrechten oder der Sicherheit am Arbeitsplatz nicht nur Studierende, sondern ein bereiteres Publikum zu mobilisieren. Ihr Aktivismus und ihr politisches Engagement wurden zu einem wichtigen Katalysator für die Gründung weiterer linker Organisationen, zu denen unter anderem eine unabhängige Gewerkschaft und eine feministische Vereinigung gehören.

Seit 2016 scheinen linke Organisationen in Georgien an Momentum verloren zu haben. Die meisten Mitglieder der Studierendengruppen haben ihr Studium mittlerweile abgeschlossen, sind in den Arbeitsmarkt eingetreten und entweder in die Politik gegangen oder haben sich zivilgesellschaftlichen Gruppen angeschlossen. Zudem haben sich Konflikte innerhalb der linken Bewegungen verschärft und einige ihrer Anhänger*innen haben sich ideologisch neu orientiert. Seit 2021 kam es jedoch noch zweimal zu einem Revival in Teilen der georgischen Linken, einmal, als sich eine Gruppe von Aktivist*innen den Protesten gegen ein Wasserkraftwerk im Rionital im Nordwesten Georgiens anschloss, und ein weiteres Mal, als eine andere Gruppe von Aktivist*innen das sozialistische Graswurzelkollektiv Khma ins Leben rief, das sich für soziale Belange wie eine bezahlbare Medikamentenversorgung und kostenlose Mahlzeiten für Studierende einsetzt.

Komplexe Ansichten über die sowjetische Vergangenheit

Analysiert man die gegenwärtige Linke in Georgien, dann muss man sich ihre Ansichten zur sowjetischen Geschichte des Landes anschauen. Die Menschen, die ich im Rahmen meiner Feldforschung befragt habe, vertraten eine breite Spanne unterschiedlicher Meinungen zum politischen, sozialen und wirtschaftlichen System der Sowjetunion. Unabhängig davon, wie stark ihre Kritik an ethischen und moralischen Aspekten der Sowjetunion und der von ihr verübten Gewalt ausfiel, unterstrichen alle meine Gesprächspartner*innen, dass die soziale Absicherung der Bürger*innen zur Sowjetzeit in Georgien besser gewesen sei als heute.

Im Hinblick auf ihre Ansichten zur sowjetischen Vergangenheit Georgiens reichten meine Gesprächspartner*innen von Linksliberalen, für die die politische Repression und die Verletzung von politischen und bürgerlichen Rechten im Mittelpunkt standen, bis hin zu Sozialist*innen und Marxist*innen, die die starke Sozialfürsorge in der Sowjetunion betonten und auf den wechselnden Grad der Repression im Verlauf ihrer Geschichte hinwiesen. Ein marxistischer Forscher behauptete, dass die soziale Ordnung in der Sowjetunion antikolonial gewesen sei und sich der Konsumkultur widersetzt habe. Ihr Ende sei eine humanitäre Katastrophe gewesen. Ein demokratisch-sozialistischer Analyst beschrieb sein Verhältnis zur Sowjetunion als „dualistisch“. Zwar sagte er, dass die Repression falsch gewesen sei, unterstrich aber die wichtige Rolle, die die Sowjetunion beim Sieg über den Faschismus gespielt habe.

Eine von mir befragte Linksliberale betonte den Einfluss, den die Erfahrungen ihrer Familienmitglieder auf ihre ideologische Entwicklung gehabt hätte. Die georgischen Bürger*innen hätten zur Sowjetzeit mehr Vertrauen in die Zukunft gehabt und sich sicherer gefühlt als heute. Zugleich setzte sie das sowjetische Regime aber auch mit dem deutschen Faschismus gleich und meinte, dass es nichts Gutes über die Sowjetunion zu sagen gebe. Ein anderer, ebenfalls linksliberaler Befragter war der Meinung, dass der ideologische Kern der Sowjetunion nicht links gewesen sei, sondern sozialistische Ideen vielmehr vom sowjetischen Regime vereinnahmt worden seien. Allerdings bemerkte er auch, dass er die aktuelle Sowjetnostalgie in manchen Teilen der jüngeren georgischen Linken und unter älteren Menschen verstehen könne, da die Gesellschaft als Ganze von den besseren sozialen Bedingungen während der Sowjetzeit profitiert habe.

Unterschiedliche Perspektiven auf das postsowjetische Russland

Auch die Einstellungen gegenüber dem postsowjetischen Russland und dem russischen Krieg in der Ukraine waren unterschiedlich. Zwar betrachteten alle Befragten Russland wegen seiner Besetzung Südossetiens und Abchasiens als eine Gefahr für die Sicherheit Georgiens. Ihre normativen und sachlichen Einschätzungen des russischen Kriegs gegen die Ukraine klafften jedoch auseinander.

Zum Beispiel gab es erhebliche Unterschiede, wie die Befragten das Vorgehen der ukrainischen Regierung, ihre politische Ideologie und ihre Rolle innerhalb des globalen Systems beurteilten.Erneut verlief die entscheidende Trennlinie zwischen Linksliberalen auf der einen und radikalen Sozialist*innen und Marxist*innen auf der anderen Seite. Die radikalen Linken waren aber auch untereinander gespalten, da einige von ihnen ähnliche Positionen wie georgische Linksliberale vertraten, die in der imperialistischen Politik Russlands die Hauptursache des Krieges sehen.

Einige Marxist*innen wiesen auf die Fehler der amerikanischen Außenpolitik in Afghanistan, Libyen und Syrien und die imperialistische Haltung der USA hin. Während diese Befragten aufgrund des außenpolitischen Vorgehens der USA und seines aus ihrer Sicht expansionistischen Charakters ein gewisses Verständnis für die russische Außenpolitik aufbrachten, kritisierten sozialistische Linke scharf die von Russland in seiner direkten Nachbarschaft verfolgte imperialistische Politik. „Ich habe die ukrainische Regierung nicht unterstützt und kann sagen, dass die Zukunftsaussichten für Menschen mit meinen politischen Ansichten in der Ukraine nicht gerade rosig wären“, sagte ein Befragter. „Das ändert aber nichts daran, wer in diesem Konflikt das Opfer und wer der Aggressor ist.“


Veronika Pfeilschifter ist Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kaukasusstudien der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Sie ist zudem affiliierte Wissenschaftlerin des ZOiS. In ihrem Dissertationsprojekt forscht sie zur neuen Generation von jungen Linken im Südkaukasus.