Eine neue Ära Chinas in Zentralasien?
Zum ersten Mal seit der Aufnahme diplomatischer Beziehung vor 30 Jahren kamen China und die zentralasiatischen Staatschefs bei einem Gipfeltreffen zusammen. China baut seinen Einfluss in der Region seit Jahren aus – eine Entwicklung, die vor Ort nicht bei allen willkommen ist.
Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking.
Die Staatschefs Zentralasiens und der chinesische Präsident Xi Jinping trafen sich vom 18. bis 19. Mai in der chinesischen Stadt Xi'an zu einem China-Zentralasien-Gipfel. Die Wahl Xi'ans als Ort des ersten persönlichen Treffens seit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen China und den Ländern Zentralasiens vor drei Jahrzehnten war eine symbolische Entscheidung. Durch die Wahl des heutigen Industrie- und Handelszentrums, das einst das östliche Ende der antiken Seidenstraße bildete, bekräftigte China die poetische Dimension einer gemeinsamen Zukunft mit Zentralasien.
Der Gipfel war zweifellos ein Meilenstein in den Beziehungen zwischen China und Zentralasien, die durch Chinas regionalen Kooperationsrahmen eines „multilateralen Bilateralismus“ auf eine immer stärkere institutionelle Grundlage abseits der Russland umfassenden Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit gestellt werden. Die über 100 Kooperationsvereinbarungen, die auf dem Gipfel unterschrieben wurden, werden wahrscheinlich eine ganze Bandbreite an sozialen und ökologischen Folgen für Zentralasien haben. Beijing mag zwar sein Versprechen einer neuen Blaupause für die Beziehungen zwischen Zentralasien und China nicht erfüllt haben. Allerdings sind solche unvollständigen Blaupausen integraler Bestandteil des chinesischen Modus Operandi. Es liegt an den Staaten Zentralasiens, wie sie diese Pläne im Sinne ihrer eigenen Zukunft vervollständigen und mit Leben füllen werden.
Zentralasien im Rampenlicht
Durch Russlands Krieg gegen die Ukraine hat Zentralasien für die europäische Rohstoff- und Energiesicherung an Attraktivität gewonnen und ist zu einem verlockenden mittleren Korridor geworden, der eine Alternative zu den nördlichen Transitrouten durch Russland darstellt. China hat seine Aufmerksamkeit jedoch schon lange vor dem Krieg auf Zentralasien gerichtet. Seit den frühen 1990er-Jahren hat sich China langsam von einem freundlichen Nachbarn, der Busse und Traktoren spendet, zu einem guten Freund gewandelt, der militärische und finanzielle Hilfe bereitstellt und in der Region öffentliche Infrastruktur errichtet. Ende der 2000er-Jahre hatte China mit Investitionen in Schlüsselsektoren wie Energie, Ressourcenabbau, Fertigung und Infrastruktur Russland als führenden Handelspartner der Region überholt.
Im Zuge seines gewaltigen, eine Billion Dollar schweren globalen Infrastrukturvorhabens, der Neuen Seidenstraße (Belt and Road Initiative, BRI), das 2013 an der Nasarbajew-Universität in Astana verkündet wurde, nimmt China Projekte an Orten in Angriff, an die sich andere Partnerländer nicht heranwagen oder für die sie sich nicht interessieren. In Zentralasien lag der Schwerpunkt der Initiative darauf, die regionale Transport- und Energieinfrastruktur durch den Bau von Eisenbahnlinien, Autobahnen, Häfen, Kraftwerken und Dämmen zu stärken.
Nun, ein Jahrzehnt später, nutzt China das gemeinsame Gipfeltreffen mit den Staaten Zentralasiens, um zu signalisieren, dass es wieder offen für Geschäfte ist und bereit, sich nach dem Ende der Pandemie mit Zentralasien an seiner Seite ins Geschehen zu stürzen. In einer gemeinsamen Gipfelerklärung und einer Fülle von Kooperationsvereinbarungen wurde feierlich angekündigt, die chinesische Präsenz in der Region kontinuierlich fortzusetzen, mit finanziellen Zusagen Beijings in Höhe von 3,8 Milliarden US-Dollar. Die zentralasiatischen Regierungen unterstützten Chinas Vorschlag, zusammen eine Gemeinschaft mit einer gemeinsamen Zukunft aufzubauen, die auf den vier Grundsätzen des gegenseitigen Vertrauens, der gemeinsamen Entwicklung, des Friedens und der Sicherheit sowie der ewigen Freundschaft beruht. Über den Anschluss an die nationalen Entwicklungsstrategien seiner zentralasiatischen Partnerländer hinaus hat China Zentralasien mithilfe dieser Prinzipien dazu gebracht, sich hinter Beijings globales Paradigma der Entwicklung, Sicherheit und des Austauschs von Mensch zu Mensch (people-to-people exchanges) zu stellen.
Die Liste an zukünftigen gemeinsamen Aktivitäten ist gleichermaßen lang wie konkret. Zu den Highlights gehören unter anderem die beschleunigte Umsetzung des geplanten Eisenbahnkorridors China-Kirgistan-Usbekistan, der Aufbau eines kasachischen Logistikzentrums in Xi'an, die Ausweitung der gemeinsamen Militärübungen mit Tadschikistan und ein neuer chinesisch-kirgisischer Investitionsfond. Neben einer stärkeren Kooperation in traditionellen Bereichen der Konnektivität und des Handels wollen die beteiligten Regierungen zudem neunzehn Direktkanäle etablieren, um die Zusammenarbeit in der Fertigungsindustrie, beim E-Commerce, im digitalen Handel sowie im Bereich der grünen Wirtschaft auszuweiten. Die gemeinsame Erklärung ist bemerkenswert, unterstreicht sie doch den Willen der Länder, enger zusammenzuarbeiten, um die Ziele des Pariser Abkommens von 2015 über Klimaschutz und nachhaltige Entwicklung umzusetzen.
Die Welt braucht ein stabiles Zentralasien
„Die Welt braucht ein stabiles, wohlhabendes, harmonisches und vernetztes Zentralasien”, betonte Präsident Xi in seiner Eröffnungsrede. Abseits des Gipfelgeschehens hat die spürbare Präsenz Chinas auf den zentralasiatischen Ölfeldern, in den Goldminen und geplanten Logistikzentren in der Region jedoch die Angst vertieft, Souveränität, Arbeitsplätze und Traditionen an China zu verlieren. Unter den Menschen Zentralasiens wurden so Sinophobie und Misstrauen gegenüber dem eigenen Staat geschürt. Bemerkenswertestes Beispiel dafür waren Ereignisse in Kasachstan 2016, als Menschen überall im Land auf die Straße gingen, um gegen mittlerweile wieder fallengelassene Pläne der Regierung zu protestieren, die Gesetzgebung zu ändern, um Privatisierungen und die Verpachtung von Land an Ausländer*innen zu ermöglichen – worin die Demonstrierenden eine drohende chinesische Landnahme sahen. Sorgen über angebliche Pläne Chinas, umweltschädliche Industrien nach Kasachstan zu verlagern, lösten drei Jahre später eine weitere Protestwelle aus, die sich im ganzen Land ausbreitete.
Ängste vor wirtschaftlicher und ökologischer Ausbeutung durch chinesische Goldbergbauunternehmen haben in Kirgistan zu Auseinandersetzungen zwischen lokalen Anwohner*innen und Unternehmensmitarbeiter*innen geführt sowie Protesten, bei denen ein Ende der Bergbautätigkeiten gefordert wurde. Die immer höheren Summen, die vor allem Kirgistan und Tadschikistan China schulden, haben ebenfalls zu Ängsten vor einer irreversiblen Abhängigkeit der Staaten Zentralasiens von China geführt.
Jenseits ökologischer und sozialer Ängste hat Beijings Vorstellung von Stabilität, territorialer Integrität und Souveränität zu weiterem Unmut unter den Menschen und Ausbrüchen antichinesischer Stimmung in der Region geführt. Muslimische ethnische Minderheiten, die im Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang leben oder mit ihm in Verbindung stehen, sind staatlicher Repression und Masseninhaftierungen ausgesetzt. Unter dem Vorwand, China vor den drei Übeln des Terrorismus, Extremismus und Separatismus zu beschützen, wurden sowohl Uigur*innen als auch ethnische Kasach*innen und Kirgis*innen inhaftiert. Ethnische Kasach*innen, die für die Freilassung ihrer Verwandten in Xinjiang demonstrieren, sind zusätzlicher Repression und Überwachung durch den kasachstanischen Staat ausgesetzt.
Was möchte Zentralasien?
Chinas wachsendes Engagement in Zentralasien hat im besten Fall gemischte Gefühle ausgelöst, im schlimmsten destabilisierende und traumatische Auswirkungen gehabt. Chinesische Investor*innen und Auftragnehmer*innen haben über die Jahre gelernt, ihr Sozialverhalten und ihre Unternehmensführung anzupassen, um die Risiken ihrer Tätigkeiten zu verringern und ihren Ruf zu schützen. Allerdings macht China es sich bequem und hält sich an die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und Kooperationsrichtlinien, die von den herrschenden Eliten der Gastländer gesetzt werden, da sie sich zunehmend mit den eigenen Interessen decken.
Wer von der neuen Ära der Zusammenarbeit zwischen China und Zentralasien profitieren wird, hängt davon ab, ob die Regierungen Zentralasiens der eigenen Bevölkerung zuhören und bei ihrer Planung und Umsetzung Raum für Bürgerbeteiligung schaffen werden. Liefert der Gipfel in Xi'an jedoch nur altbekannte Ergebnisse, dann ist auch mit den altbekannten Problemen und Protesten zu rechnen.
Dr. Beril Ocaklı ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS, wo sie das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt „China, die EU und wirtschaftliche Entwicklung in Osteuropa und Eurasien“ leitet.