Gedenken als Propaganda: Russlands neue Denkmäler für den Zweiten Weltkrieg
Nach Russlands umfassender Invasion der Ukraine wurde die in dem Satz „Hoher Norden, niedrige Spannung“ ausgedrückte Idee arktischer Kooperation über Nacht ad acta gelegt. Eine Debatte über Weltkriegsdenkmäler in Nordnorwegen zeigt, wie schwierig es ist, das Verhältnis der Region zu Russland neu zu denken.
Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking.
Einmal im Jahr ist die Kleinstadt Kirkenes im Norden Norwegens Gastgeberin einer Konferenz, die die grenzübergreifende Zusammenarbeit in der Barentsregion stärken soll – einem Gebiet, das die nördlichsten Teile Norwegens, Schwedens, Finnlands und Nordwestrusslands umfasst. Die Konferenz 2022, abgehalten am 13. und 24. Februar, wurde jedoch von Russlands umfassendem Einmarsch in die Ukraine überschattet. Es sollte das letzte Mal werden, dass russische Delegierte an diesem Format teilnahmen. Nach dem Beginn der Invasion zögerte der norwegische Staat nicht, Russland zu verurteilen und sich den EU-Sanktionen gegen das Land anzuschließen. Seitdem ist Nordnorwegen zum Mittelpunkt immer ambitionierterer Militärübungen der NATO-Verbündeten geworden. Eine anhaltende lokale Debatte über Denkmäler für den Zweiten Weltkrieg zeigt jedoch, dass in diesem Teil Norwegens eine größere Ambivalenz gegenüber Russland herrscht.
Kirkenes liegt in Finnmark, der ersten norwegischen Region, die im Oktober 1944 im Rahmen einer sowjetischen Offensive, der sich später auch norwegische Streitkräfte anschlossen, von der deutschen Besatzung befreit wurde. Wenig überraschend ist Finnmark übersät mit Denkmälern für die sowjetischen Soldat*innen, die an der Befreiung der Region beteiligt waren. Meine norwegischen Kolleg*innen unterscheiden zwischen „offiziellen” und „inoffiziellen” Denkmälern: „Offizielle“ Denkmäler, wie das berühmte Befreiungsdenkmal (Frigjøringsmonumentet) in Kirkenes, gehen auf die Sowjetzeit zurück. Bei den „inoffiziellen“ handelt es sich um Denkmäler, die in den 2000er-Jahren und vor allem nach 2014 durch unterschiedliche russische Akteure initiiert wurden, darunter Beamt*innen von jenseits der Grenze in Murmansk.
Es sind diese neueren Denkmäler, die in Nordnorwegen besonders umstritten sind. In den Monaten nach dem umfassenden russischen Angriff auf die Ukraine wurden lokale Stimmen lauter, die forderten, zumindest die „inoffiziellen“ Denkmäler zu entfernen. Ihr Hauptargument hat mit Russlands Missbrauch dieser Denkmäler als einem Werkzeug der Kriegsdiplomatie zu tun. Laut Kari Aga Myklebost, Professorin für Geschichte an der Arktischen Universität von Norwegen (UiT), ist es kein Zufall, dass Russland nach seiner Annexion der Krim im Jahr 2014 so aktiv Denkmäler und patriotische „Erinnerungstouren“ in Nordnorwegen initiiert hat. In ihrer Forschung weist sie auf verschiedene, miteinander zusammenhängende Ziele hin, die Russland mit diesen Orten verfolgt.
Kriegsdiplomatie durch Denkmäler
Die Denkmäler und die um sie herum organisierten Gedenkveranstaltungen wurden dazu genutzt, unter lokalen Interessensvertreter*innen in Nordnorwegen genau jene Narrative des Zweiten Weltkriegs zu verbreiten, die einen so wesentlichen Bestandteil des russischen Propagandarepertoires bilden. Wenn sich russische Vertreter*innen an die Menschen in der Region wenden, dann rühmen sie üblicherweise deren Partisanengeschichte und kritisieren zugleich die norwegischen Behörden dafür, ihr nicht genug Aufmerksamkeit zu schenken. Damit machen sie sich bereits vorhandene lokale Empfindlichkeiten zunutze – ein typisches Beispiel für die „Teile-und-Herrsche“-Strategie der russischen Kriegsdiplomatie, die versucht, einen Keil zwischen Zentralregierungen und Regionen in anderen Ländern zu treiben.
Russland nutzt die offiziellen und inoffiziellen Denkmäler für den Zweiten Weltkrieg auch dazu, der Außenwelt zu suggerieren, Norwegen und Russland stünden damals wie heute auf derselben Seite. In einer Rede am Befreiungsdenkmal in Kirkenes anlässlich des 75. Jahrestag der Befreiung der Stadt am 25. Oktober 2019 widmete sich Russlands Außenminister Sergej Lawrow deshalb vornehmlich dem Erstarken des Neonazismus in Europa und der Notwendigkeit einer Zusammenarbeit zwischen Russland und Norwegen, um dieser Bedrohung entgegenzutreten. Vorwürfe des Neonazismus sind ein zentraler Bestandteil russischer Rechtfertigungen des Kriegs gegen die Ukraine. Die Behauptung, dass Russland einen „gerechten“ Krieg gegen die Ukraine führe, hatte zur Folge, dass einige der Denkmäler für den Zweiten Weltkrieg in Nordnorwegen für antiukrainische Rhetorik und Propaganda instrumentalisiert wurden. Ein frühes, aber markantes Beispiel stellen Äußerungen Lawrows auf seiner persönlichen Tour durch das östliche Finnmark 2014 dar, in denen er ukrainische Nationalist*innen und die Anführer der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) Stepan Bandera und Roman Schuchewytsch mit dem norwegischen Nazikollaborateur Vidkun Quisling verglich und damit unterstellt, dass Ukrainer*innen, die heute den Kampf ihres Landes für die Unabhängigkeit unterstützen, ebenfalls Neonazis sind.
Erinnerungstouren: Ein Vorwand, nach Norwegen einzureisen
Nicht zuletzt dienen die neuen Denkmäler – in einem sehr praktischen Sinne – als Vorwand, sich physischen Zugang zu bestimmten Teilen Nordnorwegens zu verschaffen. Die vermeintlich harmlosen Erinnerungstouren liefern russischen Akteuren ein Alibi, die Grenze nach Finnmark zu überqueren und dort Beziehungen zu lokalen Politiker*innen und Historiker*innen zu unterhalten. So können sie für die lokale Bevölkerung emotional sehr stark aufgeladene Kriegserinnerungen instrumentalisieren.
Unter Interessensvertreter*innen in Nordnorwegen herrscht nicht einmal Konsens darüber, ob die „inoffiziellen“ Denkmäler für den Zweiten Weltkrieg entfernt werden sollten. Wie konfliktgeladen dieses Thema ist, wurde während der „Kranzschlacht“ am Befreiungsdenkmal in Kirkenes am 79. Jahrestag der Befreiung der Stadt 2023 sichtbar. Unterstützt durch lokale Russ*innen versuchte der russische Generalkonsul in Kirkenes Nikolaj Konigin einen vom Bürgermeister von Kirkenes abgelegten Kranz in ukrainischen Farben durch einen Kranz in russischen Farben zu ersetzen. Einige Menschen vor Ort argumentieren, dass die Denkmäler nicht entfernt werden sollten, da sie für die Nachkommen von Norweger*innen, die gegen die Nazis gekämpft haben, insbesondere die Nachkommen von Partisan*innen, immer noch von Bedeutung sein könnten. Andere sind der Meinung, dass man die russische Propaganda verurteilen könne, ohne Denkmäler zu entfernen.
Der Umgang mit den Denkmälern für den Zweiten Weltkrieg in Finnmark verdeutlicht die komplexen Auswirkungen des russischen Kriegs gegen die Ukraine auf die lokalen Gesellschaften im hohen Norden. Zwar gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass irgendeines der „offiziellen“ sowjetischen oder „inoffiziellen“ russischen Denkmäler bald entfernt werden könnte. Im Rahmen der umfassenderen Bemühungen in Nordnorwegen, die eigenen Beziehungen zu Russland zu überdenken, ist es jedoch von entscheidender Bedeutung, das öffentliche Bewusstsein dafür zu stärken, wie diese Orte von Russland instrumentalisiert werden.
Maryna Rabinovych ist Assistenzprofessorin im Fachbereich für öffentliche Ordnung und Governance an der Kyiv School of Economics (KSE) sowie Postdoc-Forscherin an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Arctic University of Norway (UiT). Seit Oktober 2024 ist sie außerdem Fellow im Ukraine Research Network@ZOiS, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird.