Gelebte Geopolitik: Getreidelogistik zwischen Krieg und Grenze
Am Grenzdreieck zwischen der Ukraine, Moldau und Rumänien warten LKW-Fahrer seit Kriegsbeginn bis zu 16 Tage auf die Zollkontrollen. Die Situation ist nicht nur eine persönliche Belastungsprobe für die Betroffenen, sondern fördert auch Korruption und macht die geopolitischen Konflikte der Machtzentren sichtbar.
Die Region Odesa gilt als eines der landwirtschaftlich ertragreichsten Getreideanbauzentren Europas. Mit rund 45 Millionen Tonnen Getreideerzeugnissen jährlich ist die Ukraine unter den führenden globalen Getreideexporteuren. Der Hafen in Odesa – einer der wichtigsten Umschlagplätze für die Ausfuhr des goldenen Korns weltweit – musste nach Kriegsbeginn vorläufig für den kommerziellen Handel gesperrt werden. Die beiden Donauhäfen in Reni (Ukraine) und Galati (Rumänien) und der rumänische Schwarzmeerhafen in Constanta sollten schließlich das Nötigste abfangen.
In kürzester Zeit stieg der Grenzverkehr über Land um 400 Prozent. Es bildeten sich lange Staus an dem Donaudreieck, das die Ukraine über Moldau mit Rumänien verbindet. Der vormals verschlafene Grenzübergang hatte sich über Nacht in ein Nadelöhr für den Getreide- und Ölexport auf den globalen Markt verwandelt. Der Frust der wartenden LKW-Fahrer an der Grenze interessierte dabei kaum jemanden; ein Umstand der sich wohl am besten im Kommentar eines ukrainischen Fahrers ausdrückt, mit dem ich im Juli 2022 auf der moldauischen Seite sprach: „Die Sorge darüber, wie Menschen in Afrika ohne unser Getreide und Öl leiden würden beschäftigt die Welt, aber niemand kümmert es, wer das eigentlich transportiert.“
Die Wartezeit am Dreiländereck hatte sich zu dieser Zeit auf 10 bis 16 Tage eingefahren. Mit Temperaturen von bis zu 45 Grad war das lange Warten nicht nur zermürbend, sondern auch gesundheitsgefährdend. Vor einigen Tagen sei ein Kollege gestorben, wurde mir erzählt. Gemeinsam drückten wir uns in den schmalen Streifen Schatten neben den erhitzten Maschinen. Man merkte den Fahrern an, dass sie sich über die Ablenkung durch meine Feldforschung freuten. Zugleich machten sie sich aber keine Illusionen, dass eine Reportage über die Grenzsituation die Bedingungen vor Ort verbessern könnte. Dabei hätten bereits das Aufstellen von Sanitäranlagen sowie Schatten- und Wasserspender die Lage substanziell verändern können. Manche Anwohner*innen hätten Mitleid gehabt und ihnen unentgeltlich Wasser und Essen gebracht. Aber das sei auf Dauer auch keine Lösung.
Geopolitik im Grenzalltag
Warum, wollte ich wissen, war es nicht möglich die Zollkontrollen zu beschleunigen? Und warum waren auch nach Monaten die Wartebedingungen so miserabel, während der Unmut über Müll und Abgase im anliegenden moldauischen Ort Giurgiulești immer lauter wurde? Auf der Suche nach Antworten wurde schnell klar, dass solche Fragen oft im Licht historischer und geopolitischer Spannungen diskutiert wurden. Die Donauregion ist ethnisch divers, so auch die Fahrer, die sowohl aus der Region, als auch aus der Türkei, dem Südkaukasus und Zentralasien kommen. Bei einer so eklektischen Gruppe werden geopolitische Konflikte schnell im Kleinen sichtbar. Die einen behaupteten, die Ukraine wäre heute besser dran, wenn sie 2013 der Zollunion mit Russland beigetreten wäre. Ein älterer Fahrer aus Transnistrien schwelgte in Erinnerungen an die Sowjetzeiten, woraufhin der beistehende Kollege aus Chișinău Transnistrien als aussterbenden Dinosaurier bezeichnete, der sich gegen den Wandel der Zeit sträube. Moldaus Zukunft ist die EU, davon war er überzeugt. Hier schaltete sich ein Fahrer aus der Türkei ein, der in gebrochenem Russisch daran erinnerte, dass man der EU nicht trauen könne. Die Türkei habe jahrelang auf den Beitritt gewartet, bis man das ewige Hinhalten sattgehabt habe. Jeder, der einmal an der türkisch-bulgarischen Grenze gewartet habe, wisse, dass sich die Zollabwicklung in dieser Zeit keinen Deut verbessert habe. In einem waren sich allerdings alle einig: die Rumänen seien schuld an den langen Wartezeiten. „Seit sie der EU beigetreten sind, lassen sie keine Gelegenheit aus, uns ihre Überlegenheit spüren zu lassen“, schimpfte ein Fahrer aus Gagausien, einer ehemals nach Autonomie strebenden Region im Süden Moldaus, und ergänzt, „die EU sollte nicht zulassen das man uns so behandelt“.
Hoffen auf die EU?
Es wäre zu einfach, die ganze Verantwortung Rumänien zuzuschieben, erklärt mir der stellvertretende Zolldirektor in Chișinău. Die Gründe seien komplex und hätten viel mit langjähriger logistischer und personeller Unterfinanzierung auf allen Seiten zu tun. So scheitere etwa die Digitalisierung der Zollkontrollen auch an simplen Dingen wie Computerarbeitsplätzen. Er hoffe allerdings, dass sich mit Inkrafttreten der Solidaritätskorridore zum Export von Gütern aus der Ukraine und dem großzügigen Budget, das die EU für den kriegsbedingten Infrastrukturausbau zur Verfügung gestellt habe, das Problem des Lastkraftverkehrs bald verbessern würde, auch wenn ein Großteil der Finanzierung in den Ausbau der Bahnverbindungen fließen solle.
Im März dieses Jahres kehrte ich an die Grenze nach Giurgiulesti zurück. Schnell war klar, dass sich die Wartezeiten trotz vereinfachter Zollabwicklung und des zwischenzeitlich in Kraft getretenen Getreideabkommens nicht merklich verkürzt hatte. Im Gespräch mit diensthabenden Grenzbeamten wurde deutlich, dass die prekäre Lage der LKW-Fahrer bei der EUBAM (European Union Border Assistance Mission to Moldova and Ukraine) seit Sommer 2022 bekannt ist. Hilfe hätten sie zugesagt, aber passiert sei noch nichts. Die Stimmung war miserabel. Nicht nur, weil nach wie vor keine Sanitäreinrichtungen bereitgestellt waren, sondern auch weil das erhöhte Verkehrsvorkommen zu einem Anstieg der Schmiergeldzahlungen an der Grenze geführt hatte. Vor allem auf der ukrainischen Seite seien die verlangten Beträge geradezu unverschämt, wobei die Kosten oft bei den Fahrern selbst hängen bleiben. Dass es der EU gelingen würde, die notorischen Korruptionsstrukturen zu durchbrechen, glaubte kaum jemand.
Nicht nur Machtzentren in den Blick nehmen
Grenzregime und großangelegte Infrastrukturprojekte bieten vielschichtige Einblicke in makropolitische Machtverhältnisse. Subalterne Akteure wie Logistikarbeiter*innen finden in sozialwissenschaftlichen Studien aber nur selten Beachtung. Noch immer gilt die Aufmerksamkeit vorranging geopolitischen Diskursen, die in globalen Machtzentren stattfinden. Auch wenn diese Diskursebene wichtig ist, zeigt die Mikroanalyse der gelebten Erfahrungen, dass es gerade die scheinbaren Nebenschauplätze und marginalen Geschichten sind, die ein besseres Verständnis für die Verflechtungen geopolitischer (Konflikt-)Räume schaffen können. Wo die Verkettung und gegenseitige Bedingung globaler und lokaler Kräfte nicht ernst genommen wird, entstehen Leerstellen, die nur allzu leicht mit vorgefertigten Meinungen gefüllt werden. Auf diese Weise werden Machtverhältnisse reproduziert, was wiederum nicht ohne Reaktion unter derjenigen bleibt, die sich übergangen, missverstanden oder ausgenutzt fühlen.
Die Aufkündigung des Getreideabkommens von russischer Seite und der massive Beschuss der Getreidelanger und Häfen im Großraum Odesa hat die Brutalität und die Kompromisslosigkeit der russischen Aggressoren aufs Neue ins Bewusstsein gerufen. Die Angriffe auf den Hafen in Reni läuteten eine neue Eskalationsebene in diesem Krieg ein. Einerseits wegen der unmittelbaren Nähe zu Moldau und Rumänien, letzteres ein NATO-Mitglied. Andererseits weil damit klar wurde, dass es Russland um die gezielte Torpedierung der Getreideausfuhren ging. Damit werden auch die LKW-Kolonnen an der Grenze zu möglichen Zielscheiben. Ungeachtet dieser Gefahr werden Logistikketten medial als entmenschlichte Objekte dargestellt, die sich mal schneller und mal langsamer durch vollautomatisierte Grenzinfrastrukturen schieben. Logistikarbeiter*innen sind aber keine anonymen Dienstleister, deren Erfahrungen und Lebensrealitäten keine Rolle für den Gang der Geschichte spielen. Forschung und Politik sollten die Kenntnisse und Erfahrungen auf der Mikroebene ernst nehmen. Die Nuancen, die darin zu Tage treten, bieten auch einen strategischen Vorteil gegenüber autokratischen Terrorapparaten wie Russland – und sind wichtig zur Bildung einer glaubwürdigen EU, für die Menschen sich begeistern.
Claudia Eggart ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Teil des Projekts „Zwischenräume leben: Individuelle Anpassungsstrategien und Erwartungshorizonte in der Ukraine und Moldau (LimSpaces)“ am ZOiS. Daneben promoviert sie an der Universität Manchester.