Georgiens neue Welle russischer Migrant*innen
Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking.
Georgien stehen politisch und wirtschaftlich turbulente Zeiten bevor. Der proeuropäische Kurs des Landes, der von einer Mehrheit der Georgier*innen befürwortet wird, hat durch den anhaltenden Krieg in der Ukraine an Fahrt aufgenommen. Im Juni 2022 lehnte die EU die Bewerbung des Landes um einen Beitrittskandidatenstatus jedoch vorerst ab. In der Folge erlebte Georgien nicht nur die größte Demonstration der letzten Jahre in Tiflis, die unter dem Motto „Nach Hause, nach Europa!“ stattfand, sondern auch den Aufstieg einer neuen Bürger*innenbewegung, die sich für Georgiens Annäherung an Europa einsetzt. Die proeuropäischen Aktivist*innen haben der georgischen Regierung mehrere anspruchsvolle Aufgaben gestellt, die sie bis Ende 2022 erfüllen soll: den Abbau oligarchischer Strukturen, eine politische Entpolarisierung und den Schutz freier Medien.
Gleichzeitig stellt eine durch den Angriffskrieg in der Ukraine ausgelöste neue Welle von russischen Migrant*innen Georgien vor zusätzliche Herausforderungen. Nach Ausbruch des Kriegs in der Ukraine wurde Georgien zum wichtigsten Zielland für politisch aktive, gebildete und sozial engagierte russische Bürger*innen. Wer sind diese russischsprachigen Migrant*innen in Georgien? Ein neues ZOiS-Pilotprojekt wirft einen Blick auf die politischen und sozialen Dimensionen der aktuellen Welle von Migrant*innen, die das autoritär regierte Russland in Richtung verschiedener Zielländer, unter anderem Georgien, verlassen. Ziel des Projekts ist es, die Selbstorganisation der Migrant*innen und ihr transnationales Engagement zu untersuchen.
Neuankömmlinge in Georgien
Seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022 haben mehr als 30.000 russische Bürger*innen aus Angst vor geschlossenen Grenzen, einer militärischen Generalmobilmachung und in einigen Fällen sogar strafrechtlicher Verfolgung und Verhaftung Russland verlassen und sind nach Georgien gegangen. Für junge Anhänger*innen der russischen Opposition und russische IT-Expert*innen, die für internationale Unternehmen tätig sind, ist Georgien aufgrund seiner Visafreiheit ein attraktives Ziel. Migrant*innen können sich ein Jahr lang im Land aufhalten, ohne sich registrieren zu müssen, und politische Aktivist*innen können weiter im Menschenrechtsbereich oder in der Antikriegsbewegung tätig sein. Aufgrund der moderaten Lebenshaltungskosten und der in vielen Bereichen geringen Bürokratie ist es zudem relativ einfach, sich in Georgien ein neues Leben aufzubauen.
Einer quantitativen Umfrage zufolge, die im April 2022 von russischen Sozialwissenschaftler*innen durchgeführt wurde, die selbst nach Georgien und Armenien ausgewandert sind, handelt es sich bei den neuen Migrant*innen in der Regel um junge, mobile und gut gebildete Russ*innen. Zweiundsechzig Prozent von ihnen wurden in den 1990er- oder 2000er-Jahren geboren, 75 Prozent stammen aus Moskau oder Sankt Petersburg, und nur 10 Prozent haben Kinder unter 18 Jahren. Während die Hälfte der russischen Migrant*innen ihren Umzug nach Georgien als temporär betrachtet und plant, in ein anderes Land weiterzuziehen, möchte die andere Hälfte längerfristig in Georgien bleiben. Bisher haben jedoch nur wenige von ihnen angefangen, die georgische Sprache zu lernen, was aber nicht bedeutet, dass die sich passiv verhalten.
Im Juni 2022 besuchte ich einige der selbstorganisierten Co-Working-Spaces und Treffpunkte für Russ*innen in Tiflis. Dort herrschten eine große Offenheit, gegenseitige Solidarität und das Verlangen, sich in Georgien zu etablieren und die eigene Isolation zu überwinden. Antikriegsprojekte und Solidaritätsaktionen für die Ukraine und ukrainische Geflüchtete gehören zu den Hauptaktivitäten politisch engagierter russischer Migrant*innen in Tiflis. Mehrere Projekte sollen ukrainischen Geflüchteten humanitäre Unterstützung bieten und ihnen dabei helfen, sich im neuen Land zurechtzufinden. Außerdem sollen ukrainische Bürger*innen, die gezwungen wurden, nach Russland zu gehen, dabei unterstützt werden, nach Georgien umzuziehen. Die Freiwilligeninitiative Emigration for Action organisiert zum Beispiel Spendenaktionen, um Medizin und andere Hilfsgüter für ukrainische Geflüchtete in Georgien zu besorgen.
Der Alltagsaktivismus, der schon vor ihrem Umzug nach Georgien das Leben vieler Migrant*innen prägte, umfasst eine Vielfalt verschiedener ziviler Initiativen und sozialer Projekte, die auf horizontalen, nicht-hierarchischen Formen der Selbstorganisation beruhen, zum Beispiel Prostranstwo Dom, das vegane Café Freek, ökologische Cateringdienste, Buchhandlungen und feministische Festivals, um nur einige der Initiativen zu nennen. Ein weiteres Beispiel ist Prostranstwo Politika („Raum für Politik“), ein Netzwerk zivilgesellschaftlicher Jugendprojekte, das sich zum Ziel gesetzt hat, eine auf Dialog, demokratischen Werten und Meinungspluralismus beruhende Kultur zu fördern. Für Aktivist*innen, die ihr Heimatland verlassen haben, ist es von entscheidender Bedeutung, über die sozialen Medien Informationen austauschen und verbreiten zu können, um ihren Stimmen Gehör zu verschaffen. Vor allem für Neuankömmlinge ist diese proaktive Form des Protests wichtig, um klar Position beziehen zu können. Sie hilft ihnen dabei, sich vom russischen Regime zu distanzieren, die Handlungsspielräume der Exilgemeinschaft zu erweitern und Vorbehalte seitens der Aufnahmegesellschaft abzubauen.
Das Verhältnis der Migrant*innen zur georgischen Gesellschaft
Laut einer Umfrage des International Republican Institute vom April 2022 stellt Russland für 90 Prozent der georgischen Bevölkerung von allen Ländern die größte politische Gefahr für Georgien dar, 83 Prozent betrachten Russland zudem auch als eine wirtschaftliche Bedrohung. Russland wird als Aggressor gesehen, das 2008 zwanzig Prozent des georgischen Territoriums besetzt hat; viele junge Georgier*innen verbinden die russische Sprache deshalb mit kolonialer Herrschaft. Einer 2022 durchgeführten Umfrage des National Democratic Institute zufolge macht sich eine Mehrheit der Georgier*innen Sorgen um den wachsenden Einfluss Russlands auf die georgische Politik und Wirtschaft. Angesichts des Zustroms von Russ*innen nach Georgien sind 66 Prozent der Georgier*innen dafür, eine Visapflicht für russische Bürger*innen einzuführen.
Dass die Vorbehalte gegenüber Neuankömmlingen aus Russland in Georgien stärker sind als im prorussischen Armenien, wo die Menschen ihnen gegenüber sehr positiv eingestellt sind, ist keine Überraschung. Das hat unter anderem damit zu tun, dass die Menschen in Georgien Angst vor dem Regime des russischen Präsidenten Wladimir Putin haben, insbesondere davor, dass der Kreml Maßnahmen ergreifen könnte, um „russische Staatsbürger*innen zu schützen“ und sich in Georgien stärkeren Einfluss zu verschaffen. Im März gab es Fälle von Diskriminierung gegenüber Russ*innen und Aufrufe zum Boykott russischer Produkte wurden laut. Drei Monate später scheint sich die Situation jedoch zu normalisieren, wie ich bei Gesprächen mit Aktivist*innen und Beobachtungen in Tbilisi feststellen konnte. Nichtsdestotrotz ziehen die meisten neuen russischen Migrant*innen es vor unsichtbar zu bleiben und sich von öffentlichen Protesten fernzuhalten. Sie wollen sich nicht in Georgiens innere Angelegenheiten einmischen, um der georgischen Regierung und Gesellschaft, die ihnen temporär Zuflucht gewährt haben, nicht noch mehr Ärger zu bereiten.
Im Allgemeinen haben russische Migrant*innen das Gefühl, in Georgien in Sicherheit zu sein, und unterstützen den proeuropäischen Kurs des Landes. Einige der auf sich selbst gestellten Aktivist*innen empfinden jedoch Ungewissheit, was ihre Zukunft in Georgien betrifft. Eine der langfristigen Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine wird sein, dass in Osteuropa eine neue, vulnerable Gruppe von Migrant*innen entsteht, die zu einem wichtigen Element der zukünftigen geopolitischen Landschaft Europas werden könnte.
Dr. Tsypylma Darieva ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS und leitet den Forschungsschwerpunkt „Migration und Diversität“. Gemeinsam mit Dr. Tatiana Golova arbeitet sie am neuen Pilotprojekt „Politische Migration aus Russland und Aserbaidschan“.