ZOiS Spotlight 5/2025

Linkssein: Was bedeutet das für junge Frauen in Armenien?

Von Veronika Pfeilschifter 07.03.2025

Linke und feministische Ideen haben es im patriarchal geprägten Armenien nicht leicht. Wie eine neue Studie zeigt, ist das Linkssein für junge Frauen vor allem mit Wut, Angst und Enttäuschung verbunden. Gleichzeitig spielen Hoffnung und Solidarität in ihrem Ringen um gesellschaftliche Veränderung eine große Rolle.

Eine Frau hält die armenische Version des Buches „Feminismus für die 99%. Ein Manifest“ (von Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya, Nancy Fraser) während einer Präsentation in der FemLibrary in Jerewan (2024). FemLibrary Yerevan / ՖեմԳրադարան

Laut einer Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung und des ZOiS aus dem Jahr 2021 sehen sich 26 Prozent aller Jugendlichen (14-29 Jahre) in Armenien selbst als links, darunter 13,4 Prozent als weit links. Diese hohe Anzahl an linker Positionierung muss mit Vorsicht interpretiert werden und spiegelt sich nicht in einer politischen Institutionalisierung wider. Linke Diskurse und Ideen, darunter beispielsweise die erste feministische Bibliothek Armeniens, FemLibrary, haben eine marginalisierte Position in der armenischen Gesellschaft; linke Gruppen und Formierungen sind fragmentiert und überwiegend lose organisiert.

Im Rahmen meiner Promotion habe ich mich auf junge linke Frauen in Armenien fokussiert und untersucht, welchen Stellenwert politische Ereignisse für ihr Selbstverständnis aufweisen. Zusammen mit Kolleg*innen vom CRRC Armenien habe ich hierfür zwischen Herbst und Winter 2024/25 Fokusgruppen und Einzelinterviews durchgeführt. An der Mikrostudie nahmen insgesamt 15 Frauen zwischen 19 und 29 Jahren teil. Im Mittelpunkt standen ihre gelebten Erfahrungen und Emotionen.

Politische und affektive Selbstzuschreibungen

Das Links-Label kann auf vielfache Art und Weise verstanden werden und umfasst unterschiedliche, zum Teil auch widersprüchliche Ideologien, Gesellschaftsvorstellungen sowie emotionale oder historische Assoziationen. In unserer Studie haben wir links zunächst an eine ideale Gesellschaftsform (wie beispielsweise Geschlechterdemokratie, Sozialdemokratie oder eine klassenlose Gesellschaft) geknüpft.

Interpersonelle Beziehungen waren für das Linkssein der Teilnehmerinnen besonders prägend – sei es, weil sie aufgrund ihres Geschlechts Abwertung und Ungleichheit erfahren haben oder weil sie Rückhalt durch Freundinnen oder Bekannte, die mit kritischer und feministischer Theorie und Praxis vertraut waren, erfuhren. Viele von ihnen verbanden das Linkssein mit einem tief verwurzelten Gefühl der Ungerechtigkeit und dem Wunsch, sich sowohl für andere als auch für gesellschaftliche Gerechtigkeit einzusetzen. Negative Emotionen wie Ärger und Wut spielten dabei eine zentrale Rolle, insbesondere im Hinblick auf strukturelle Benachteiligung und die Ausgrenzung von Frauen in der armenischen Gesellschaft und Politik. Gleichzeitig waren auch zukunftsgerichtete Gefühle für ihr Linkssein wichtig. Insbesondere die Hoffnung auf soziale Veränderung ist ein zentraler Bestandteil ihres Selbstverständnisses.

Bergkarabach und Samtene Revolution: Angst, Wut und Enttäuschung  

Politische Ereignisse wurden in erster Linie mit „Angst“, „Wut“ und „Enttäuschung“ assoziiert. Angst wurde vor allem von den jüngeren Teilnehmerinnen (18-21 Jahre) genannt und war eng mit Erinnerungen an den von Aserbaidschan initiierten zweiten Bergkarabach-Krieg (2020) verbunden. Der Krieg stellte die Überzeugungen vieler in Bezug auf (Anti-)Militarismus vor erhebliche ethische Dilemmata. Die Überlegungen der Teilnehmerinnen spiegelten drei spezifische Auswirkungen des Krieges wider: eine Abwendung vom Politischen, eine verstärkte Hinwendung zu links-kollektivistischen Ideen, die nationale Kultur und Staatsschutz unterstreichen, und das Ringen um links-individualistische Werte, die aus Sicht vieler Teilnehmerinnen in Armenien besonders vernachlässigt werden.

Für manche fühlten sich die Verluste und die Niederlage im Krieg als retrospektive Enttäuschung in Bezug auf die Samtene Revolution zwei Jahre zuvor an. Viele Teilnehmerinnen hatten sich auf den Straßen enthusiastisch für das Ende einer korrupten Oligarchie eingesetzt. Andere hingegen sahen die Revolution, auch wenn sie sich beteiligten, von Anfang an als patriarchal geprägt. Für sie änderten die Proteste nichts an ihren Überzeugungen, sondern bestätigten, dass der in Armenien männlich dominierte Raum in gleicher Weise aufrechterhalten wurde.

Transnationale Erinnerungen und Mobilitätserfahrungen

Emotionen gegenüber politischen Ereignissen waren für einige an transnationale Erlebnisse und Mobilitätserfahrungen geknüpft. Marie (25), die sich aufgrund der sozialen „Stagnation“ in Armenien unwohl fühlte, war mit Anfang 20 gezielt nach Bulgarien emigriert. Wegen familiärer Umstände kehrte sie nach einem Jahr nach Armenien zurück, was aufgrund der als stärker patriarchal empfundenen Gesellschaft zu einer „schlimmen Depression“ führte:

Ich wurde in die [bulgarische] Gesellschaft aufgenommen. Ich gehörte [dort zur niedrigen] Kategorie, aber ich wusste, dass die Einstellungen gegenüber Frauen […] völlig anders waren. Alles in allem war es für mich [dort] ein Paradies.

Narine (25) dagegen berichtet von positiven Assoziationen mit der armenischen Gesellschaft. Sie kam nach der Explosionskatastrophe in der libanesischen Hauptstadt Beirut im Jahr 2020 ohne Eltern mit ihren jüngeren Geschwistern nach Armenien und wurde in erster Linie durch politische Ereignisse im Libanon, wie beispielsweise der Krieg im Jahr 2006 oder die Revolution im Jahr 2019, politisch sozialisiert. Sie erinnerte sich besonders an die kollektive Hilfe zwischen den Menschen und das Gefühl der gegenseitigen Solidarität, das sie nach den Kriegen in Armenien erneut erlebte.

Neben transnationalen Erfahrungen waren für viele Teilnehmerinnen auch Mobilitätserfahrungen innerhalb Armeniens, beispielsweise aus den Regionen nach Jerewan (oder umgekehrt) für ihr Linkssein bedeutsam. Besonders illustrativ ist die Geschichte von Sirapie (25), die sich für feministische und marxistische Theorie interessiert und die aufgrund der sozioökonomischen Situation ihrer Familie als Kind von Jerewan nach Wanadsor umziehen musste. Sie verband diese Erinnerungen an ihre prekäre Situation und partielle Familientrennung mit „Verzweiflung“ und „Hilflosigkeit“. Die Auseinandersetzung mit marxistischer Theorie habe ihr retrospektiv geholfen, ihre eigenen und von anderen ähnliche Lebenserfahrungen besser einzuordnen.

Soziale Proteste: Solidarität und Hoffnung   

Für die vergleichsweise älteren Teilnehmerinnen (22-29 Jahre) waren vor allem politische Ereignisse der 2010er Jahren entscheidend für die Herausbildung ihrer linken Haltungen. Lebendige, positiv konnotierte Erinnerungen bezogen sich auf die Massenproteste gegen hohe Stromkosten im Jahr 2015 („Electric Yerevan“) oder die Maschtoz-Proteste im Jahr 2012 gegen die Zerstörung des Maschtoz-Parks und gegen sozioökonomische Ungleichheit. Frauen waren bei diesen Protesten in vorderster Reihe.

Darüber hinaus hatten die Proteste gegen die Goldmine Amulsar nahe des Kurorts Dschermuk im Süden Armeniens einen katalysierenden Einfluss auf manche ihrer linken Positionen. Die Amulsar-Mine ist aufgrund weitreichender Umwelt- und Gesundheitsschäden für die lokale Bevölkerung ein höchst umstrittenes Projekt, das 2024 schlussendlich durchgesetzt wurde. Im Jahr 2019 blockierten lokale Anwohner*innen und Umweltaktivist*innen die Mine, um einen weiteren Ausbau des Goldbergbaus zu verhindern. Unter den Demonstrierenden war auch Lusine (28):

Das war eine sehr aktive Periode des Neoliberalismus in Armenien nach der Revolution [2018]. Die Bergbauindustrie verschlang […] schnell alles; es war, als würde man sagen: „Dieser Berg gehört mir, dieses Tal gehört mir“. Während dieser Zeit verstand ich, wie wichtig linke Überzeugungen sind.

Für viele weibliche Teilnehmerinnen war der Widerstand gegen die Mine oft gleichzeitig mit einem Ringen, sich gegenüber männlichen Linken in der Protestbewegung zu behaupten und ihre feministischen Ideen einzubringen, verbunden – ein Anliegen, das für die meisten jungen linken Frauen in Armenien in ihrem Wunsch nach gesellschaftlicher Veränderung von zentraler Bedeutung ist.


Veronika Pfeilschifter ist affiliierte Wissenschaftlerin im Forschungsschwerpunkt „Jugend und generationeller Wandel“ am ZOiS und Doktorandin am Institut für Kaukasiologie in Jena.