Mächte des Globalen Südens und der Krieg gegen die Ukraine
Indien, Südafrika und andere Länder des Globalen Südens positionieren sich neutral zu Russlands Angriffskrieg. Dass dieser Haltung wirtschaftliche Interessen zugrunde liegen, mag offensichtlich sein. Doch auch Ressentiments gegenüber dem Westen und der Wunsch nach neuen globalen Machtverhältnissen spielen eine Rolle.
Nicht alle Mitglieder der Vereinten Nationen verurteilten bei der Abstimmung am 2. März 2022 den russischen Angriff auf die Ukraine und die damit einhergehenden Brüche des Völkerrechts und der Menschenrechte. Indien und Südafrika, die neben Brasilien und China Russlands Partner in der BRICS-Staatengruppe sind, enthielten sich. Diese Länder, wie auch der Globale Süden insgesamt, wurden wegen ihrer zögernden Haltung gegenüber dem Krieg vielfach kritisiert. Diese Haltung bietet aber auch Chancen. Indien übernahm am 1. Dezember 2022 die Präsidentschaft der G20, eines Forums der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer und der Europäischen Union für Fragen der globalen Governance, und ist bemüht, zwischen Russland und der Ukraine zu vermitteln. Auch Südafrika formulierte in den ersten Monaten des Krieges solche Absichten. Ihre als neutral formulierte Position brachte aber tendenziell mehr Verständnis für Russland als für die Ukraine auf.
Historische Allianzen und russische Narrative
Indiens und Südafrikas Bemühungen um eine neutrale Haltung gegenüber Russlands Invasion der Ukraine, während die Ukraine von westlichen Ländern militärisch, finanziell und in Form von Sanktionen gegen Russland unterstützt wird, ist im Hinblick auf historische Allianzen beider Länder zu verstehen. Sowohl Indien als auch Südafrika gehörten der Bewegung der Nicht-Alliierten an, die infolge der asiatisch-afrikanischen Konferenz im indonesischen Bandung 1955 entstanden ist. Sie entschlossen sich, im Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunion eine neutrale Position einzunehmen. Da der Krieg gegen die Ukraine mentale und politische Strukturen aus dem Kalten Krieg heraufbeschwor – wie den Konflikt zwischen Russland bzw. der Sowjetunion und der NATO – wählten auch Indien und Südafrika Narrative aus jener Zeit.
Aufgrund der von Russland geschickt gewählten strategischen Narrative ist es für viele Länder des Globalen Südens eine Herausforderung, den Angriff auf die Ukraine auf andere Weise einzuordnen. Viele von ihnen teilen die russische Kritik an der NATO-Erweiterung und der Einmischung des Westens in die Angelegenheiten souveräner Nationen und nehmen den Krieg gegen die Ukraine durch dieses Prisma wahr. Da die Ukraine vom Westen unterstützt wird, ist es für diese Länder nicht einfach, ihr anti-westliches Ressentiment abzulegen und anzuerkennen, dass Russland als eine koloniale Macht auftritt und die Souveränität der Ukraine nicht respektiert. Dass die Sowjetunion in dieser Region der Welt mit Anti-Kolonialismus assoziiert wird, macht es den betreffenden Staaten nicht leichter, sich nun von Russland zu distanzieren. Die Perspektive, die den Bruch der Menschenrechte durch das russische Militär und den russischen Staat betont, ist zwar präsent, wird aber eher von den oppositionellen Parteien zum Beispiel in Südafrika oder von den im Globalen Süden tätigen NGOs vertreten, aber nicht unbedingt von den Regierungen.
Wirtschaftliche Verflechtungen
Aber auch materielle Interessen spielen eine Rolle. Indien kauft Öl und Waffen aus Russland und wollte diese Einfuhren nicht gefährden. Auch Südafrika importierte russische Waffen. Beide Länder haben mehr wirtschaftliche Verbindungen zum Westen als zu Russland, sie spekulierten aber darauf, dass diese trotz ihrer Haltung gegenüber Russland nicht gekappt werden, und hatten Recht. Wie praktisch alle Länder des Globalen Südens beteiligen Indien und Südafrika sich nicht an den westlichen Sanktionen. Neben den wirtschaftlichen Abhängigkeiten mag ein weiterer Grund sein, dass sie es nicht begrüßen, wenn wirtschaftliche und finanzielle Verbindungen zur Waffe gemacht werden, die irgendwann auch sie treffen könnte.
Globale Machtinteressen
Darüber hinaus betrachten Indien und Südafrika Russland als eine mit den USA konkurrierende Macht und nehmen an, dass in einer multipolaren Welt die Interessen der jeweiligen Machtpole – zu denen Indien auch zählen will – besser vertreten werden, als in einer in der Krise begriffenen Welt der US-Hegemonie. Darüber hinaus braucht Indien Verbindungen zu sowohl den USA als auch Russland, um dem wachsenden Einfluss Chinas in Asien standzuhalten. Die Ukraine ist ein Opfer dieses Arrangements, weil Indien und Südafrika die koloniale Dimension des Krieges wahrscheinlich durchaus wahrnehmen, und dennoch im Einklang mit ihren jeweiligen Nationalinteressen agieren.
Trotz dieser Haltung der beiden Länder, die nicht die moralische Verurteilung des Krieges priorisiert, erfuhr die Ukraine viel Solidarität aus der südafrikanischen und der indischen Gesellschaft. Es entstanden Bürgerinitiativen für die Ukraine, die durch Spenden finanzierte humanitäre Hilfe lieferten. Auch der indische Staat unterstützte humanitäre Maßnahmen, die jedoch finanziell deutlich unter den europäischen Maßnahmen lagen.
Neutralität könnte Mediationsmöglichkeit schaffen
Die vielfach kritisierte Position Indiens und Südafrikas gegenüber Russlands Angriff auf die Ukraine, die die beiden Mächte als „neutral“ bezeichnen, ist also nicht eindeutig zu bewerten. Sie könnte nicht zuletzt Mediationsversuche ermöglichen. Insbesondere Indien bemüht sich um einen solchen Weg. Dabei versteht es sich als Botschafter des Globalen Südens, der von diesem Krieg wirtschaftlich sehr betroffen ist. Indiens Premierminister Narendra Modi versuchte sich bereits in der informellen Einflussnahme und äußerte gegenüber dem russischen Präsidenten Wladimir Putin während des Treffens der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit im September 2022, dass die Gegenwart „keine Zeit für Kriege“ sei.
Seit Oktober sucht Indien verstärkt Kontakt auch zur ukrainischen Seite und kündigte weitere Mediationsversuche unter seinem G20-Vorsitz an. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj konnte zum Beispiel beim G20-Gipfel auf Bali im November um Unterstützung für seinen Friedensplan werben. Im selben Monat fanden individuelle Gespräche Modis mit Selenskyj und Putin statt. Da 2023, anders als 2014, als der Minsker-Friedensprozess initiiert wurde, kein Verhandlungsformat existiert, kann damit eine gewisse Hoffnung verbunden werden. In jedem Fall ist es aber ein Zeichen der Zeit, dass es der Globale Süden ist, der sich bemüht, an der Lösung eines europäischen Konfliktes zu arbeiten, während eine innereuropäische Verhandlungsoption zurzeit kaum realistisch erscheint.
Dr. Ewa Dąbrowska ist Postdoc-Wissenschaftlerin im Exzellenzcluster SCRIPTS („Contestations of the Liberal Script“) in Berlin. Ihr aktuelles Forschungsprojekt beschäftigt sich mit den Bemühungen der Schwellenländer um digitale und technologische Souveränität im Kontext der geopolitischen Veränderungen im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Ukraine.