ZOiS Spotlight 8/2024

Migration, Tradition und Wandel in Georgien

Von Diana Bogishvili 17.04.2024

Viele Georgier*innen sind positiv gegenüber der EU und ihren Werten eingestellt. Dies unterstreichen eindrücklich die Proteste gegen ein neues Gesetz nach russischem Vorbild. Eine Studie des ZOiS zeigt, dass auch georgische Migrant*innen in westlichen Ländern die Werte in ihrem Herkunftsland beeinflussen.

Georgische Migrant*innen in Deutschland leben häufig zwischen zwei Welten. Diana Bogishvili

Tausende Menschen gehen in Georgien aktuell auf die Straße. Sie protestieren gegen ein von der russlandfreundlichen Regierungspartei Georgischer Traum geplantes Gesetz zu „ausländischen Agenten“, das in erster Lesung am 17. April vom Parlament gebilligt wurde. Ihre Sorge ist, dass ein solches Gesetz, ähnlich wie in Russland, regierungskritische Stimmen zum Schweigen bringen und antidemokratische Strukturen stärken würde. An diesen Demonstrationen wird ein Dilemma sichtbar, das bereits seit längerem zu Spannungen in der georgischen Gesellschaft führt: Während ein Teil der Bevölkerung einen vermeintlichen Werteverfall durch westlichen Einfluss anprangert, orientieren sich viele, überwiegend junge Georgier*innen, in Richtung EU und zeigen sich offen für Veränderung.

Dabei spielt auch die zunehmende Mobilität eine Rolle, was Reisen, vor allem aber auch Migration in westliche Länder betrifft. Denn wenn Menschen in ein anderes Land auswandern, werden ihre Denkmuster häufig durch die Kultur der Aufnahmegesellschaft beeinflusst. Interviews des ZOiS mit georgischen Migrant*innen in Deutschland bestätigen, dass diese ihre Wertorientierungen häufig überdenken. Viele der in Georgien verbliebenen Familienangehörigen nehmen die neuen Werte ihrer migrierten Angehörigen als Gefährdung traditioneller Wertvorstellungen wahr. Gleichzeitig zeigen sie aber auch eine Offenheit dafür, die Erfahrungen ihrer migrierten Verwandten in ihr eigenes Weltbild zu integrieren.

Denkmuster im Wandel

Eine der befragten Migrant*innen beschreibt ihr Leben in Georgien vor der Migration als „Leben in einem Lotus“ – ein Bild für ein kollektives Gemeinschaftsgefühl, an dem alles Neue wie das Wasser an Lotusblättern abperlt. Doch sprechen viele der Befragten davon, dass Georgien sich heute dringend ändern müsse. Diese Veränderung solle nicht nur politische und rechtliche Aspekte umfassen, sondern auch die gesellschaftliche Wahrnehmung von und den Umgang mit Unterschieden. Es geht ihnen darum, die in der georgischen Gesellschaft tief verwurzelte Angst vor dem Unbekannten zu überwinden, eine Angst, die daher rührt, dass Georgien „immer um sein Überleben gekämpft hat“, wie eine der Befragten sagt.

Die befragten Migrant*innen nehmen eine tiefgreifende gesellschaftliche Spaltung in Georgien wahr, die ihrer Meinung nach auf unterschiedlichen Bildungs- und Erfahrungshintergründen beruht. Diese Spaltung drückt sich in widersprüchlichen Wertevorstellungen aus, insbesondere in Bezug auf politische Einstellungen, die Rolle der Kirche und LGBTQ+-Themen: „In Georgien habe ich das LGBT-Thema immer aus einer religiösen Perspektive betrachtet und gleichgeschlechtliche Beziehungen als Sünde angesehen, da die Kirche dies so lehrt. Doch in Deutschland habe ich mich zum ersten Mal gefragt, ob das, was die Kirche sagt, wirklich stimmt.“ Häufig wird auch auf die aus ihrer Sicht falsche Schwerpunktsetzung bei sozialen Protesten hingewiesen. Existenzielle Fragen würden oft vernachlässigt, während nicht-kritische Themen im Vordergrund stünden. Beispielsweise würde die Kirche Anti-LGBTQ+-Proteste organisieren, anstatt sich gegen Armut oder andere drängende soziale Probleme einzusetzen.

Das Hauptproblem sehen viele Migrant*innen darin, dass traditionelle Werte in Georgien nach wie vor von Generation zu Generation weitergegeben werden. Dies betrifft insbesondere tradierte Vorstellungen von Familie und Geschlechterrollen. Die Kirche spielt eine bedeutende Rolle bei der Vermittlung dieser Werte. Doch viele der Befragten sehen es als Voraussetzung für ein gerechteres und inklusiveres Georgien, diese traditionellen Werthaltungen und Denkweisen zu hinterfragen. Sie streben gesellschaftlichen Fortschritt auf der Grundlage von Bildung, kritischer Reflexion und sozialer Gerechtigkeit an. So betont eine Befragte, dass „das Erkennen und Akzeptieren bestimmter Details, die den eigenen Glauben, die eigenen Werte, die eigenen Traditionen und die eigene Vielfalt bereichern, nicht bedeutet, dass man sein Georgischsein verliert oder seine Heimat verleugnet“.

Bewusstsein für Selbstfürsorge wächst

Viele der in Georgien verbliebenen Familienangehörigen stehen Veränderungen aber eher abwartend gegenüber und betonen die Kontinuität traditioneller Werte. Gleichzeitig erkennen sie die Notwendigkeit, überkommene Einstellungen zu überdenken. Dies ist nicht zuletzt eine Folge der Reflexion über ihr Leben und ihre Prioritäten im Vergleich zu ihren migrierten Kindern. Sie beschreiben ihre Kinder oft als zielstrebig und betonen, diese hätten klare Pläne für ihr Leben. Dadurch entwickelt sich auch bei ihnen eine gewisse Sensibilität für Selbstfürsorge, persönliche Prioritäten und ein Verständnis dafür, wie wichtig es ist, „sich selbst nicht zu vernachlässigen und sich nicht zu sehr von äußeren Einflüssen leiten zu lassen“. Dies führt ihrer Meinung nach dazu, dass sie ihre „eigenen Bedürfnisse und Ziele stärker berücksichtigen und somit zu einem ausgeglicheneren und selbstbestimmteren Leben finden“.

Die jungen Migrant*innen dagegen äußern den Wunsch, sich von den kulturellen Rahmenbedingungen in Georgien zu befreien. Sie empfinden die Erfahrungen im Herkunftsland als verinnerlichte Einschränkungen der persönlichen Freiheit. Ihr Streben nach Unabhängigkeit und Autonomie nimmt zu. Dies bedeutet auch, dass die Migration ihr Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten stärkt. Die in Europa gemachten Erfahrungen werden häufig als Befreiung von traditionellen gesellschaftlichen Normen wahrgenommen, „weil ich keinen Rahmen sehe, der dich in deinem Handeln einschränkt“, wie eine Befragte betont.

Zwischen Tradition und Neuorientierung

Die Herausforderung für die in Georgien verbliebenen Familienangehörigen besteht darin, die Anerkennung kultureller Vielfalt mit der Bewahrung traditioneller Werte in Einklang zu bringen. Trotz der unterschiedlichen Wertevorstellungen vieler befragter Migrant*innen in Deutschland und ihrer Familienangehörigen in Georgien sind die Beziehungen häufig von gegenseitigem Verständnis und Akzeptanz geprägt. Viele Eltern von Migrierten legen Wert auf ihre Rolle als Eltern und betonen die Notwendigkeit, die Perspektiven ihrer Kinder anzuerkennen und zu respektieren, selbst wenn sie nicht vollständig mit ihnen übereinstimmen. Ihre Denkmuster spiegeln eine komplexe Mischung aus kultureller Tradition, Veränderungsbereitschaft und Familienwerten wieder. Oft werden sie von ihren migrierten Kindern dafür kritisiert, dass sie an ihren traditionellen Überzeugungen festhalten. Gleichzeitig ermutigen sie die Eltern, übernommene Normen kritisch zu hinterfragen und die Notwendigkeit individuellen Denkens und Handelns anzuerkennen.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Migration zu komplexen Veränderungen sowohl in den individuellen Wertvorstellungen als auch in den gesellschaftlichen Diskursen des Herkunftslandes führt. Die Auseinandersetzung mit Identitäten und Werten, sowohl bei den befragten Migrant*innen als auch ihren Eltern im Herkunftsland, ist ein wichtiger Teil des kulturellen Austauschs. Die beobachteten migrationsbedingten Generationenkonflikte unterstreichen für die georgische Gesellschaft die Notwendigkeit, die Auswirkungen von Migrationsprozessen auf verschiedene gesellschaftliche Gruppen zu analysieren und zu verstehen. Migration kann also ein bedeutender Motor auch für die Veränderung der Gesellschaft in den Herkunftsländern sein.


Diana Bogishvili ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS. In ihrem Dissertationsprojekt untersucht sie die transnationalen Lebenswelten von georgischen Bildungsmigrant*innen in Deutschland und ihren Angehörigen in Georgien.