Post-Punk in Belarus und Russland: Lyrische Kritik am politischen System oder postsowjetischer Nihilismus?
Im Februar 2021 erschien das Album 505 der Petersburger Post-Punk-Band Electroforez. Das Duo um Iwan Kurotschkin und Witalij Talysin konnte sich seit Beginn der 2010er Jahre als eines der wichtigsten Musikkollektive der neuen russischen Alternative Scene etablieren. Ihre Klangwelten sind von düsterer Stimmung geprägt, ihre Texte dekadent romantisch, was für Post-Punk und Dark Wave nicht ungewöhnlich ist. Umso mehr wurden Musikkritiker*innen in Russland vom Album 505 überrascht. Afisha.ru stellte fest, dass die Lyrics politisch geworden sind und die Band vor eindeutigen sozialen Statements nicht zurückschreckt. Sobaka.ru setzt das Album mit einem gesellschaftlichen Hilferuf gleich. Auf dem Album wurde auch das gemeinsame Lied Mjёrtv vnutri (Innerlich tot) mit der belarusischen Band Molchat Doma (Die Häuser schweigen) veröffentlicht. Die russische Grammatik lässt Interpretationen im Songtitel darüber zu, wer im Inneren tot ist – er, du oder ich –, jedenfalls geht es um eine männlich gelesene Person. Ein konkreter Name wird nicht genannt.
Aus Großbritannien bis in die Sowjetunion und ihre Nachfolgestaaten
Ursprünglich entstand Post-Punk ohne eine allgemeingültige Genrebezeichnung im Großbritannien der späten 1970er Jahre. Es war ein experimentelles Feld zwischen der aufstrebenden Punk-Bewegung, dem klassischen Rock und unzähligen inhaltlichen Einflüssen aus Philosophie, Kunst, Literatur und Film. Die Musiker*innen distanzierten sich von den extrem politischen Inhalten des Punks auf der einen, und dem Kommerzgedanken des Rock auf der anderen Seite, brachten aber gleichzeitig eine Stimmung von Nihilismus, Avantgarde und Vergänglichkeit in ihren Werken zur Geltung. Post-Punk bleibt bis heute eine flexible Musikrichtung an der Grenze zu Dark Wave, New Wave, Gothic Rock und Synth Pop, deren weltweit bekannteste Vertreter The Cure, Joy Division und Bauhaus sind.
Hinter den Eisernen Vorhang gelangten Aufnahmen der Genre-Größen selten und wenn, dann vor allem nach Moskau und Leningrad beziehungsweise St. Petersburg. Die westlichen Tonträger blieben bis zum Ende der Sowjetunion ein seltenes, zumeist illegales und teures Gut. In oppositionellen und apolitischen Kreisen urbaner Intellektueller trug die Rezeption dieser Werke dagegen Früchte. Bereits Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre bildeten sich trotz staatlicher Überwachung Post-Punk-Bands in der UdSSR. Ihre Lyrics waren zumeist in der sowjetischen Lingua franca Russisch verfasst, doch musikalisch schlossen sie direkt an die britischen Kolleg*innen an. In den 1990ern wurden viele der Bands im postsowjetischen Raum zu gefeierten Rockstars und sind zum Teil bis heute aktiv. Dabei handelt es sich um Bands wie Agatha Christie, Aljans, Akvarium, Auktyon, Zvuki Mu und KINO um Frontman Viktor Tsoi. Der russisch-kasachisch-koreanische Musiker und Schauspieler Tsoi erlangte vor allem nach seinem fatalen Autounfall im sowjetischen Lettland 1990 Kultstatus. Sein Erfolg hält bis heute an. Im Zentrum Moskaus wird von seiner Fangemeinde eine Tsoi-Mauer in Erinnerung an den Musiker gepflegt. Darauf sind Porträts des Künstlers sowie persönliche Widmungen der Fans zu sehen. Im Zentrum von Minsk steht ebenfalls eine Tsoi-Mauer. In Belarus spielen aber KINO und Tsoi neuerdings eine Rolle, die weit über das Popkulturelle greift.
Extremistische Musik?
Auf einer Kundgebung kurz vor den Präsidentschaftswahlen 2020 in Belarus wurden die DJs Kirill Galanow und Wladislaw Sokolowskij verhaftet, weil sie auf einer staatlichen Demonstration unerlaubt das Lied Peremen (Wandel) von Viktor Tsois Band KINO gespielt haben. Das Publikum sang mit, die Veranstalter zogen den Stecker und die DJs bekamen zehn Tage Haft. Nach ihrer Freilassung aus Okrestina – einer Justizvollzugsanstalt, die seit über einem Jahr mit Folter und Misshandlungen Schlagzeilen macht – haben sie Belarus verlassen. Peremen wurde spontan zu einer inoffiziellen Wahlhymne des Stabs um Präsidentschaftskandidatin Swjatlana Zichanouskaja. Nach Berichten von Radio Free Europe kann heute in Belarus das öffentliche Singen, Abspielen und Verbreiten der Lieder von Viktor Tsoi als extremistischer Akt eingestuft werden und entsprechende juristische Folgen nach sich ziehen.
Wenige Monate nach den Verhaftungen der Minsker DJs, veröffentlichte die belarusische Band Molchat Doma ihr Album Monument. Auf dem Cover ist das Denkmal anlässlich der Gründung der herrschenden Partei Nordkoreas zu sehen, lediglich in einer veränderten Darstellung. Statt des koreanischen Schriftzuges stehen auf dem Denkmal das Wort Monument sowie der Name der Band in kyrillischen und lateinischen Buchstaben. Die gigantische Statue mit drei Fäusten, die jeweils einen Hammer, eine Sichel und eine Fackel halten, gleicht dabei einem Marinekreuzer, der aus dem Meer ans Ufer stößt. Als kommunistisches Monument im Wasser könnte die Komposition als Niedergang oder Auflösung eines langjährigen politischen Systems gedeutet werden. Im Interview mit dem Portal Colta.ru spricht die Band über solche Interpretationen seitens ihrer Fans, stellt jedoch klar, dass sie selbst das Cover nicht in einem politischen Kontext sehen.
Bis vor kurzem spielte Molchat Doma keine Solokonzerte in Belarus, obwohl ausverkaufte Hallen in Berlin, Warschau, London und Chicago schon fast zur Gewohnheit geworden sind. Auch hier sieht die Band keine politischen Hintergründe. Die Musik sei in Belarus einfach nicht gefragt gewesen, im Ausland dagegen schon. Allein 2021 erzielten sie auf Spotify über 120 Millionen Streams. Ihr größtes Konzert in Minsk fand im September 2021 vor rund 1.000 Gäst*innen statt.
Politischer Post-Punk?
Bei jedem künstlerischen Werk stellt sich die Frage, ob der*die Künstler*in dessen Bedeutung beeinflusst oder ob es nach seiner Fertigstellung eigenständig weiterexistiert und das Publikum es mit seinen eigenen Wertungen, Gedanken und Ideen konnotiert. Auch im Falle von Post-Punk in Belarus und Russland lässt sich diese Frage nicht eindeutig beantworten. Haben die Bands tatsächlich mit Politik nichts am Hut oder handelt es sich um lyrische Systemkritik und Selbstzensur in Interviews, die von ihrer Fangemeinschaft und Journalist*innen aufgedeckt werden. Viktor Tsoi ist jedenfalls in Belarus bereits ein Politikum. Dass die Anti-Protest-Maßnahmen des Regimes auch lebende Künstler*innen treffen werden, bleibt wohl angesichts der steigenden politisch motivierten Verhaftungen wohl eine Frage der Zeit.
Anmerkung zum Liedtext: Mit Chodynka wird im Russischen die Massenpanik bezeichnet, die 1896 bei der Thronbesteigung des letzten russischen Zaren Nikolaus II. in Moskau passiert ist. Dabei sind rund 1400 Menschen ums Leben gekommen und ca. 900 weitere Menschen wurden verletzt. Original: Давим Ходынским полем // На точку боли большой страны // Быстро сгорает совесть // В цветном неоне огней Москвы
Aleksej Tikhonov ist PostDoc im linguistischen Kooperationsprojekt „The history of pronominal subjects in the languages of Northern Europe“ der Humboldt-Universität zu Berlin und der University of Oxford und habilitiert zum Einfluss slawischer Sprachen im Deutschrap.