ZOiS Spotlight 43/2021

Rekrutierung für die Nation? Russlands neues Repatriierungsgesetz

Das neue Gesetz sieht vor, das Verfahren zum Erhalt eines russischen Passes zu vereinfachen. IMAGO / ITAR-TASS

Russland plant 2022 ein neues Gesetz zu erlassen, das Russischsprechenden außerhalb Russlands, unter anderem Ukrainer*innen und Belarus*innen, das Recht einräumt, in ihre „historische Heimat“ zurückzukehren und im Rahmen eines vereinfachten Verfahrens die russische Staatsbürgerschaft zu erlangen. Die Gesetzesvorlage „Über die Repatriierung in die Russische Föderation“ wurde am 11. Juni in die Staatsduma eingebracht. Ziel des Gesetzes ist es, im Ausland lebende russische „Landsleute“ zu unterstützen, indem ihre Interessen geschützt, ihre russische Identität bewahrt und ihre Assimilation verhindert werden soll – insbesondere in „Staaten, deren Gesetze und Praktiken für die […] nationalen Rechte und Interessen russischer Landsleute Probleme erzeugen“.

Die russische Repatriierungspolitik ist nichts Neues: Staatliche Umsiedlungsprogramme für russischsprachige Menschen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion gab es bereits in den 1990er-Jahren und erneut im Jahr 2006. Verglichen mit vorangegangen Programmen enthält der neue Gesetzesentwurf jedoch einige Änderungen, die weitreichende nationale und internationale Auswirkungen haben könnten. Besonders beachtenswert ist dabei das Verständnis des Begriffs „Landsleute“ (sootetschestwenniki).

Inspiriert durch ethnische Repatriierungsprogramme in Deutschland, Israel und Kasachstan räumt der Ansatz der russischen Regierung Millionen von „Landsleuten“ ein Aufenthaltsrecht in ihrer „historischen Heimat“ ein. In den offiziellen Diskursen des Landes werden repatriierte Personen häufig als eine wichtige Reproduktionskraft dargestellt, die dabei helfen kann, die demographischen Probleme Russlands zu lösen und die ethnische Zusammensetzung seiner Bevölkerung zu bewahren. Allerdings basiert dieser Ansatz weniger auf ethnischer Zugehörigkeit, sondern vielmehr auf einem breiteren Verständnis von Landsleuten.

Wer sind die russischen Landsleute?

Urheber des neuen Gesetzes ist der Duma-Abgeordnete Konstantin Satulin. Ihm zufolge sind all diejenigen russische Landsleute, die selbst auf russischem Gebiet gelebt haben, oder deren direkte Nachfahr*innen in diesen Gebieten leben oder geboren wurden. Diese Definition ist ausdrücklich nicht nur auf Menschen beschränkt, die in postsowjetischen Staaten leben oder im Zuge des Zusammenbruchs der Sowjetunion staatenlos geworden sind. Stattdessen schließt sie auch die Nachkommen von Emigrant*innen aus dem historischen Territorium Russlands ein, die die Staatsbürgerschaft einer anderen Nation angenommen haben oder staatenlos geworden sind. Tritt das geplante Gesetz in Kraft, könnten sie einen vereinfachten Einbürgerungsantrag stellen. Diese umfassendere Definition russischer Landsleute könnte den Kreis derjenigen, die eine Staatsbürgerschaft beantragen können, zukünftig auf mehrere zehn Millionen Menschen erweitern.

Laut dem Gesetzentwurf umfasst das historische Territorium Russlands Regionen, die zu unterschiedlichen Zeiten verschiedenen russischen Staatsgebilden angehörten, wie der „Russländische Staat“ (bis 1917), die Russische Republik (1917-1918), der Russische Staat (1918-1920), die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (1917-1991) bzw. die Sowjetunion (1922-1991) und die heutige Russische Föderation. Der Begriff der historischen Heimat ist deshalb nicht auf die Grenzen der früheren Sowjetunion beschränkt.

Um russische Landsleute genauer zu identifizieren, enthält die Gesetzesvorlage eine Liste von Völkern, die historisch auf russischem Territorium gelebt haben. Das schließt zum einen ethnische Russ*innen als „staatsformierendes Volk“ sowie die Völker ein, die mit Russland ein „gemeinsames historisches Schicksal und [eine gemeinsame] Kultur“ teilen würden, zum Beispiel Ukrainer*innen und Belarus*innen. Zum anderen umfasst es die Titularvölker der verschiedenen Republiken innerhalb der Russischen Föderation sowie Minderheiten, die zum multiethnischen Charakter des Landes beitragen, einschließlich Russlanddeutsche. Damit würde Russland also eine neue Form von Nationalstaatsbildung umsetzen.

Um die russische Staatsbürgerschaft zu erhalten, müssen Bewerber*innen weder ihre vorhandene Staatsbürgerschaft aufgeben noch in Russland leben. Dank eines im März 2020 vom russischen Präsidenten Wladimir Putin unterzeichneten Gesetzes werden ukrainische und belarusische Bürger*innen automatisch als russischsprachig anerkannt. Wer einen ukrainischen oder belarusischen Pass besitzt, kann deshalb am Repatriierungsprogramm teilnehmen, ohne russische Sprachkenntnisse nachweisen zu müssen.

Während frühere Programme sich explizit an russischsprachige Bevölkerungsgruppen richteten, verlangt der neue Gesetzesentwurf lediglich, dass die Bewerber*innen „in der Familie, im Alltagsleben und im kulturellen Bereich ungezwungen die russische Sprache gebrauchen“.  Für den Nachweis von Sprachkenntnissen wird kein Zertifikat benötigt, stattdessen reicht ein Kreuz auf dem Bewerbungsbogen und ein Interview mit einer*m Konsular- oder Ministerialbeamt*in. Das durch diesen flexiblen Ansatz geschaffene Verfahren zum Erwerb der russischen Staatsbürgerschaft ist schwer zu kontrollieren.

Der russische Einbürgerungsprozess wurde insbesondere seit 2006 immer mehr vereinfacht, um negative demographische Entwicklungen in Russland auszugleichen und die wirtschaftliche Entwicklung peripherer Regionen zu fördern. Die Bemühungen, im Ausland lebende Landsleute zu einem Einbürgerungsantrag zu bewegen, haben seit Beginn des Programms deutliche Fortschritte gemacht.

In der massenhaften Ausgabe russischer Pässe außerhalb Russlands wurde unweigerlich der Versuch Moskaus gesehen, Interventionen in den international nicht anerkannten Republiken des postsowjetischen Raums zu rechtfertigen, wie im Fall des russischen Einmarschs in die von Georgien abtrünnigen Territorien Abchasien und Südossetien während des Russisch-Georgischen Kriegs 2008. Russlands militärische Intervention in Südossetien sollte angeblich dem Schutz russischer Staatsbürger*innen dienen. Allerdings handelte es sich bei den meisten dieser Bürger*innen um ethnische Osset*innen, von denen viele ihre russische Staatsbürgerschaft erst wenige Monate zuvor erhalten hatten.

Um Russlands Soft Power im Ausland zu stärken, wurde 2008 die Agentur Rossotrudnitschestwo gegründet. Eine der Prioritäten der russischen Regierung war es dabei, Russland ein positiveres Image zu verschaffen, indem neue interaktive Formate für die im Ausland lebenden Landsleute entwickelt wurden. Dazu gehörten kostenlose Bildungsprogramme für junge Menschen an russischen Universitäten, Reisen nach Russland für die Nachkommen von Emigrant*innen und Entwicklungsprogramme.

Repatriierung als geopolitisches Instrument

Verschiedene Nationalstaaten setzen auf Repatriierungsprogramme, um ihr demographisches Potential zu verbessern und die ethnische Zusammensetzung ihrer Bevölkerung zu bewahren. Russlands Strategie, mit gesetzgeberischen Mitteln die Anzahl seiner Staatsbürger*innen zu erhöhen und dem bereits seit längerem zu beobachtenden Bevölkerungsverlust entgegenzuwirken, erscheint deshalb auf den ersten Blick nicht ungewöhnlich. Allerdings enthält die neue Gesetzesvorlage umfassende Regelungen, die nicht nur für die zukünftige Zusammensetzung der russischen Bevölkerung, sondern auch geopolitisch weitreichende Konsequenzen haben würden.

International wurde deshalb zunächst mit Sorge auf das russische Repatriierungsgesetz reagiert, da darin eine „Gefahr der Einmischung“ gesehen wurde, wie es der frühere ukrainische Außenminister Pawel Klimkin ausdrückte. Solche Bedenken sind nicht ganz unbegründet, da Repatriierungsprogramme bereits in der Vergangenheit als außenpolitische Instrumente in den Dienst imperialistischer Ambitionen gestellt wurden. Und in der Tat ist die treibende Kraft hinter dem neuen Repatriierungsgesetz nicht die hohe Nachfrage nach einem russischen Pass unter russischsprachigen Personen im Ausland, sondern die nationalen Interessen Russlands. In welchem Maße das neue Gesetz zu einem wirklichen Pull-Faktor für die "Rückkehr" nach Russland wird, bleibt offen.


Tsypylma Darieva leitet am ZOiS den Forschungsschwerpunkt „Migration und Diversität“. Sina Giesemann ist am ZOiS als wissenschaftliche Hilfskraft tätig.