ZOiS Spotlight 39/2021

Russland auf dem Weg zum Zentralstaat?

Von Stanislav Klimovich 03.11.2021
Russlands Präsident Wladimir Putin und der Gouverneur ders Oblasts Moskau, Andrej Worobjow im Kreml, Oktober 2021. IMAGO / SNA

Was die grundsätzliche Möglichkeit eines Machtwechsels angeht, ist der Präsident selbstverständlich ein Befürworter, aber sie sollte keine Obsession sein, die die Arbeit stört.

Dmitri Peskow, Pressesprecher des Kremls 27.09.2021

Am 27. September 2021 wurde der Gesetzesentwurf zu den „Grundprinzipien der Organisation von öffentlicher Gewalt in den Föderationssubjekten Russlands“ in die russische Staatsduma eingebracht. Das Gesetz sieht vor, das Verwaltungssystem in den russischen Regionen an die neue verfassungsrechtliche Realität anzupassen, die durch die im Juli 2020 angenommenen Verfassungsänderungen entstanden ist. Die grundlegende Idee des Gesetzes ist die Sicherung der weiteren Zentralisierung des politischen Systems, die in der erneuerten Verfassung vorangetrieben wird. Das Gesetz soll ein einheitliches System der öffentlichen Gewalt etablieren, in dem das föderale Zentrum die Kontrolle über die Regionen weiter ausbaut.

Das neue Verwaltungsgesetz

Die beiden Ko-Vorsitzenden der Arbeitsgruppe zum Monitoring der Umsetzung der Verfassungsänderungen 2020 – Senator Andrej Klischas und Duma-Abgeordneter Pawel Krascheninnikow – sind die formalen Initiatoren des Gesetzes. Es soll das alte Gesetz zur Organisation der regionalen Gewalt aus dem Jahr 1999 ersetzen. Auch das alte Gesetz erlebte zahlreiche Veränderungen unter Präsident Wladimir Putin und wurde immer umfangreicher und detaillierter. Ursprünglich war es lediglich als Grundlage für den Aufbau der regionalen Gewalt gedacht, wurde aber in den letzten 20 Jahren zum wichtigsten Instrument, um Putins Machtvertikale zu etablieren und erhalten. Mithilfe dieses Gesetzes verwaltete das Zentrum die Regionen, bestimmte, wer das Amt eines Gouverneurs übernehmen darf und baute die Kontrolle des Präsidenten über die regionalen Machthaber aus. 2004 wurde die Direktwahl der regionalen Gouverneure abgeschafft, seitdem wurden sie de facto vom Präsidenten ernannt. Nach der Protestwelle von 2011/2012 wurde die Direktwahl wieder in das Gesetz aufgenommen. Nun soll das Gesetz der neuen Regelung weichen.

Die wichtigsten Punkte des aktuellen Gesetzesentwurfs, die den allgemeinen Trend einer stärkeren Zentralisierung widerspiegeln, lassen sich wie folgt zusammenfassen: Erstens werden die Aufsichtsrechte des Präsidenten über die Gouverneure gestärkt. Der Präsident erhält die Möglichkeit, einen Gouverneur im Falle eines Fehlverhaltens zu verwarnen, ihn zu suspendieren oder bei Vertrauensverlust seines Amtes zu entheben. Wurden im alten Gesetz potentielle Gründe für einen Vertrauensverlust, beispielsweise in Form von Korruptionsverdacht oder Rechtsverletzung genauer definiert, fehlen solche Spezifizierungen im neuen Gesetz. Der Präsident kann sein Vertrauen grundsätzlich jederzeit und ohne sichtbaren Anlass entziehen und den regionalen Machthaber entlassen. Für Moskau wird es demnach deutlich einfacher, ungewollte oder eigensinnige Gouverneure ihres Amtes zu entheben.

Zweitens werden die Gouverneure ins einheitliche System der öffentlichen Gewalt eingegliedert. Sie werden gleichzeitig als regionale und föderale Beamte fungieren. Die Regionen und ihre Führung bilden bisher laut der Verfassung eine eigenständige Einheit im russischen föderalen System. Durch den neuen „föderalen Zusatz“ zur Jobbeschreibung werden die Gouverneure jedoch rechtlich an die Anforderungen für Bundesbeamte gebunden und somit offiziell der Macht des Zentrums untergeordnet.

Drittens treibt die aktuelle Gesetzesinitiative die Vereinheitlichung der politischen Landschaft auf der subnationalen Ebene im russischen Vielvölkerstaat voran. Heutzutage haben die Regionen verschiedene, zum Teil historisch geprägte Bezeichnungen ihres höchsten politischen Amtes. Es gibt Gouverneure, Vorsitzende der Administrationen, Oberhäupter (russ. – glavy) in Gebieten, Republiken und anderen Typen von Föderationssubjekten. Tatarstan ist dabei die letzte Republik, deren Oberhaupt offiziell Präsident genannt wird. Mit diesem Flickenteppich an Bezeichnungen soll laut dem neuen Gesetz Schluss sein – alle regionalen Machthaber sollen Oberhäupter heißen. Die Benutzung des Wortes „Präsident“ wird explizit verboten. Damit soll auch der Prozess der vollständigen Unterwerfung Tatarstans – einst die einflussreichste Region Russlands, die mit dem Zentrum lange Zeit besondere Bedingungen aushandelte – abgeschlossen werden.

Zuckerbrot für Gouverneure

Wie werden die regionalen Eliten auf den Gesetzesentwurf reagieren? Mit massivem Widerstand ist momentan nicht zu rechnen.  Zum einen sind die regionalen Machthaber auf informelle Weise bereits heute stark in die Machtvertikale eingebunden. Das Gesetz institutionalisiert lediglich den Status-quo des Systems Putin. Zum anderen verfolgt das föderale Zentrum in den Beziehungen zu den Regionen die klassische Zuckerbrot-und-Peitsche-Strategie. Um deren Unterstützung sicherzustellen, macht Putin den Gouverneuren ein unwiderstehliches Angebot: Die Gouverneure akzeptieren die Initiativen des Zentrums, die Freiheiten und Kompetenzen der Regionen einschränken, im Gegenzug werden ihre bisherigen Amtszeiten zurückgesetzt und sie erhalten die Möglichkeit, ihre Posten für weitere Jahre zu behalten. Diese Obnulenije (russ. für Nullsetzung) der Amtszeiten ist ein beliebtes Mittel des Kremls, um die Loyalität regionaler Machthaber zu sichern. In der Vergangenheit fielen Nullsetzungen beispielsweise mit der Abschaffung der direkten Wahl der Gouverneure 2004 zusammen und ergänzten die Wiedereinführung der Gouverneurswahlen im Jahr 2012. Diesmal folgt die Obnulenjie der Gouverneure symbolisch der Nullsetzung von Putins eigenen Amtszeiten. Ein wesentlicher Unterschied ist jedoch, dass für die Gouverneure keine Obergrenze vorgesehen wird – sie können beliebig oft kandidieren. Darüber hinaus wird die Amtszeit eines Gouverneurs landesweit auf fünf Jahre verlängert (früher waren es vielerorts „nur“ vier Jahre).

Die größten Profiteure von Obnulenije sind regionale Machthaber, die sich bereits in der zweiten und – nach dem alten Gesetz – letzten Amtszeit befinden. Unter ihnen sind politische Schwergewichte wie der Moskauer Bürgermeister Sergeij Sobjanin, der Gouverneur des Moskauer Gebiets Andrej Worobjew, Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow, sowie der Noch-Präsident von Tatarstan Rustam Minnichanow. Mit der Aufhebung der Obergrenzen für Amtszeiten schlägt Moskau zwei Fliegen mit einer Klappe: Es sichert die Loyalität der Gouverneure für die Zukunft und muss sich im Hinblick auf die geplante Wiederwahl Putins 2024 nicht um deren Nachfolge, besonders in oben erwähnten politisch komplexen Regionen, kümmern.

Wie weiter?

Ob das Gesetz in der vorliegenden Form verabschiedet wird, steht noch nicht fest. Tatarstans Parlament hat sich beispielsweise bereits dagegen ausgesprochen. Im Gesetzgebungsprozess erhalten die regionalen Eliten noch einmal eine Chance, die eine oder andere Formulierung zu verändern, wenngleich grundlegende Änderungen oder gar das Scheitern des Gesetzes unwahrscheinlich sind. Bisher waren die von Klischas und Krascheninnikow eingebrachten Gesetze zur Umsetzung der Verfassungsänderungen stets erfolgreich.

Grundsätzlich gilt: Der Trend der zunehmenden Zentralisierung des russischen Staates wird fortgesetzt. Obwohl die föderale Struktur als Grundprinzip mit einer Ewigkeitsklausel in der russischen Verfassung gesichert bleibt, erfolgt in der Praxis die umfassende Abschwächung dieses Prinzips durch informelle hierarchische Verwaltungspraktiken und die entsprechende formale Anpassung der regulären Gesetzgebung. Moskau sichert sich dabei die Unterstützung der regionalen Eliten durch gezielte Zugeständnisse. Russland bleibt eine Föderation ohne Föderalismus, ist jedoch trotz der zentralistischen und personalistischen Züge des Putin-Regimes (noch) kein Zentralstaat.


Stanislav Klimovich ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin und Dozent für russische Politik an der Universität Potsdam.