Russlands ethnische Minderheiten im Kampf gegen den Kulturimperialismus
Ethnische Minderheiten in Russland sind seit Jahren mit einer immer restriktiveren Sprachpolitik konfrontiert. Gleichzeitig werden sie in Russlands Krieg gegen die Ukraine zu propagandistischen Zwecken benutzt. Die hohe Todesrate von Rekruten aus Minderheiten im Krieg hat ihren Widerstand verändert und gestärkt.
Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking.
Russlands Krieg gegen die Ukraine hat ein Schlaglicht auf die sozialen Ungleichheiten innerhalb Russlands multiethnischer Bevölkerung geworfen. Vor allem die hohe Anzahl von Angehörigen ethnischer Minderheiten, die zur russischen Armee eingezogen wurden, sowie die Dämonisierung bestimmter ethnischer Gruppen durch Desinformation in den internationalen Medien haben unter den nicht-russischen Nationalitäten Ängste ausgelöst und Widerstand gegen Russlands expansionistischen Kulturimperialismus und seine Einsprachenpolitik geschürt.
Autoritäre Regime versuchen oft mithilfe von Sprachpolitik ihre Macht zu konsolidieren und Kontrolle über die Bevölkerung zu bewahren. Russlands Invasion der Ukraine hat der russischen Gesellschaft einen grauenvollen Spiegel vorgehalten, der ihre häufig ignorierte Fremdenfeindlichkeit und monolinguale Ideologie zum Vorschein bringt.
Offizielle Diskurse, Propaganda und Sprachpolitik
Obwohl Mehrsprachigkeit und die Anerkennung ethnischer Minderheiten in der Russischen Verfassung verankert sind, hat die von oben verordnete Vereinheitlichung der Sprachpolitik seit den 2000er-Jahren eine Reihe von Gesetzen zur Folge gehabt, die den Status der Minderheitensprachen in Russlands Regionen verschlechtert haben. Über zwei Jahrzehnte hinweg wurden verschiedene Maßnahmen ergriffen, um eine Politik der Einsprachigkeit durchzusetzen, von der alle nicht-russischen ethnischen Gruppen und ihr Sprachgebrauch betroffen sind.
Das Unterrichten nicht-russischer nationaler Minderheitensprachen in autonomen Republiken wurde durch 2018 erlassene Änderungen des russischen Bildungsgesetzes optional. Dies führte zu einer weiteren Schwächung des Status lokaler Sprachen und einer Stärkung des Russischen als dominante Sprache. Durch die Verfassungsänderungen 2020 wurde Russisch auf dem gesamten Territorium der Russländischen Föderation zur Staatssprache und zur Sprache ihrer „staatsbildenden Nationalität“ erklärt. Russlands aktuelle Nationalitäten- und Sprachpolitik schränkt den Unterricht in Minderheitensprachen immer weiter ein und bekräftigt die besondere Rolle der russischen Sprache. Viele russische Bürger*innen, die ethnischen Minderheiten angehören, fühlen sich vom russischen Nationsbildungsprojekt ausgeschlossen.
Von Entscheidungsprozessen ausgeschlossen verfügen ethnische Minderheiten nur über begrenzte Möglichkeiten, sich in der Öffentlichkeit für ihre Muttersprachen einzusetzen. Gleichzeitig bedient die von oben verordnete Sprachpolitik das propagandistische Bild der russischen Soldat*innen als Kämpfer*innen gegen den Nazismus und instrumentalisiert Russlands multiethnischen Charakter als Rechtfertigung für den Krieg in der Ukraine. Beispiele einer solchen Instrumentalisierung sind Minderheitenfestivals und Konzerte in den neubesetzten ukrainischen Territorien, bei denen traditionelle Musik und Tänze nicht-russischer Volksgruppen aufgeführt werden, sowie die Namen der ethnischen Bataillons in der russischen Armee (zum Beispiel Атӑл, benannt nach dem tschuwaschischen Namen der Wolga, und Алга, was auf Tatarisch „vorwärts“ bedeutet). Die russischen Behörden wollen sich Russlands multiethnischen Charakter zunutze machen, um das alte Narrativ der Sowjetära wiederzubeleben, wonach man einen antikolonialen Kampf gegen den Westen führe.
Da die Lage der russischen Minderheitensprachen durch wachsende Ungleichheit geprägt ist, regt sich immer mehr Widerstand aus der lokalen Bevölkerung und es entstehen Initiativen zur kulturellen Revitalisierung. In den russischen Regionen versuchen Aktivist*innen der ethnischen Minderheiten, Journalist*innen, Lehrer*innen und Unternehmer*innen auf vielfältige Weise, Minderheitensprachen in der Öffentlichkeit wieder mehr Raum zu verschaffen. Da Mehrsprachigkeit von offizieller Seite keine Unterstützung erfährt, rufen Aktivist*innen und Einzelpersonen neue Projekte zur Förderung von Minderheitensprachen ins Leben, unter anderem kommerzielle Kulturprojekte, Ergänzungsschulen, private Medien und Onlinedokumentationen.
Aktivismus für Minderheitensprachen und die Antikriegsbewegung
Der Sprachaktivismus in Russlands Regionen (Kalmückien, Burjatien, Tschuwaschien, Udmurtien, Sacha/Jakutien, Karelien oder Mari El) variiert in Form und Intensität. Im Allgemeinen geht es darum, sprachliche Praktiken zu verändern und das Prestige anderer Sprachen als dem Russischen wiederherzustellen. Die Aktivist*innen verfolgen dabei aber nicht zwangsläufig eine bestimmte Agenda. Aktivist*innen, die sich für Minderheitensprachen einsetzen, vermieden es vor dem Krieg gegen die Ukraine in der Regel, sprachliche Rechte zu diskutieren und auf politischer Ebene für ihre Sprachen einzutreten. Stattdessen konzentrierte man sich auf Kultur- und Bildungsinitiativen. Grund dafür war vor allem eine seit einigen Jahren in den Regionen betriebene Politik, die darauf ausgerichtet ist, Angst zu verbreiten und Separatismus zu unterdrücken.
Zum Teil hat sich die Agenda der Sprachaktivist*innen seit Beginn des Krieges verändert. Angesichts des Schocks und der Verzweiflung über die hohe Todesrate unter Angehörigen der ethnischen Minderheiten gibt es unter nicht-russischen Bürger*innen ein großes Interesse, Wissen über die ethnischen Ursprünge und das kulturelle Erbe ihrer Minderheiten zu fördern. Sprachaktivist*innen fingen an, aktiv für ihre Sprachen einzutreten, und politische Aktivist*innen begannen, im Rahmen ihrer Antikriegsinitiativen zumindest symbolisch auf Minderheitensprachen zurückzugreifen. Beispiele dafür sind Individuen, die mit Schildern gegen den Krieg protestieren, sowie Graffitis und Kunstperformances. Für Angehörige ethnischer Minderheiten, die ihren politischen Forderungen mehr Sichtbarkeit verschaffen wollen, ist die Verwendung von Minderheitensprachen ein Zeichen ihrer Fähigkeit, selbstbestimmt zu handeln. In Minderheitensprachen geschriebene Texte können die Solidarität innerhalb der Gruppe stärken und ein neues Zugehörigkeitsgefühl schaffen.
Förderung von Minderheitenstimmen
Der Krieg in der Ukraine hat Angehörige ethnischer Minderheiten ermutigt, politisch aktiv zu werden. Der herrschende Gesellschaftsvertrag wurde durch den Widerspruch zwischen der versuchten Russifizierung der Ukraine und dem erklärten Schutz sprachlicher Minderheiten in Russland erschüttert. Infolgedessen sind Diskussionen über ethnische Ungleichheiten zu einem integralen Bestandteil der Antikriegsinitiativen geworden, vor allem unter Bürger*innen, die einer nicht-russischen Minderheit angehören und im Ausland leben.
Antikriegsorganisationen und antiimperiale Bewegungen nehmen eine dekoloniale Perspektive für sich in Anspruch. Einige Stimmen haben sich außerdem gegen ethnische Vorurteile gewandt. Zum Beispiel hilft die Stiftung Freies Burjatien Bürger*innen der Republik im südöstlichen Sibirien, der Mobilisierung zu entgehen. Die gemeinnützige NGO wurde kurz nach Russlands umfassender Invasion der Ukraine von einer Gruppe von Aktivist*innen, hauptsächlich burjatischen Emigrant*innen, die in den USA und Europa leben, als erste Antikriegsorganisation gegründet, die auf einer spezifischen regionalen und ethnischen Identität beruht. Die Stiftung betreibt Gegenpropaganda und bietet Soldat*innen, die sich weigern, an die Front zu gehen, professionelle Rechtshilfe.
Der Feministische Widerstand gegen den Krieg, eine selbstorganisierte und dezentrale russische Solidaritätsgruppe, macht auf die ethnische Diskriminierung und kolonialistische Politik des russischen Staats aufmerksam und wirbt dafür, unter dem Hashtag #голоса нацмен_ок (Deutsch: „Stimmen der ethnischen Minderheiten“) persönliche Geschichten von Xenophobie in Russland öffentlich zu machen. Andere Aktivist*innen haben multiethnische Diskussionsforen gegründet, um über eine mögliche Nachkriegsordnung in Russland zu diskutieren, Rassismus zu bekämpfen und über Formen des kollektiven Handelns nachzudenken, die eine mögliche Unabhängigkeit ethnischer Republiken zum Ziel haben.
In den Regionen selbst genießen der Sprachaktivismus und die Antikriegsinitiativen aus der russischen Diaspora jedoch keine breite Unterstützung. Anscheinend ist gegen den Krieg gerichteter Sprachaktivismus in Russland noch ein Randphänomen, wenngleich die Aktivist*innen über eine wachsende Anhängerschaft verfügen und die Motivation (unter russischen Staatsbürger*innen) im Exil hoch ist, etwas an den Verhältnissen in Russland zu ändern.
Vlada Baranova ist Soziolinguistin und Fellow am Helsinki-Kolleg für Höhere Studien.
Tsypylma Darieva ist Sozialanthropologin und Senior Researcher am ZOiS, wo sie den Forschungsschwerpunkt „Migration und Diversität“ leitet.