ZOiS Spotlight 4/2025

Russlands ethnische Minderheiten und der schwindende Spielraum für Aktivismus

Der Kreml gibt weiterhin Lippenbekenntnisse zum Prinzip der kulturellen Vielfalt in Russland ab. Die jüngste Politik scheint jedoch darauf abzuzielen, die Minderheiten des Landes zu unterdrücken. Um Repressionen zu vermeiden, haben ethnische Minderheiten neue Formen des politischen Aktivismus entwickelt.

Baschkortostan, September 2020: Protest zum Schutz des Kushtau-Hügels vor dem Abriss durch ein Unternehmen, das Kalkstein abbauen will. IMAGO / Depositphotos

Mitte Januar 2024 wurde eine Kleinstadt im Süden der russischen Republik Baschkortostan für einige Tage zum Schauplatz der größten Proteste seit Russlands vollständiger Invasion der Ukraine. Trotz der Kälte versammelten sich etwa 5.000 Menschen in der verschneiten Stadt Baimak, um gegen die Verurteilung des lokalen Aktivisten Fail Alsynow, eines ethnischen Baschkiren, zu protestieren. Im Frühjahr des Vorjahres hatte er bei einer Protestkundgebung gegen ein Goldminenprojekt in einem Nachbardorf eine Rede gehalten und wurde nun der Anstiftung zum ethnisch motivierten Hass beschuldigt. Im Gerichtsgebäude von Baimak wurde Alsynow zu vier Jahren Haft verurteilt. Die Polizei zerstreute die Menge draußen mit Tränengas und verhaftete 76 Demonstrierende.

Laut der russischen Nichtregierungsorganisation OVD-Info wurden die meisten Strafverfolgungsmaßnahmen in der Russischen Föderation im Jahr 2024 in Baschkortostan eingeleitet und standen im Zusammenhang mit dem „Fall Baimak“. Dies ist Teil eines größeren Trends, selbst die mildesten Formen des öffentlichen Protests auf der Grundlage der Artikel 205.2 („Anstiftung zu terroristischen Aktivitäten“) und 212 („Teilnahme an Massenunruhen“) des russischen Strafgesetzbuches zu kriminalisieren. Die zunehmenden Repressionen in Russland scheinen wenig Raum für kritische Meinungen und vom Kreml abweichende Ansichten zu lassen. In Baschkortostan, der traditionellen Heimat der Baschkiren, haben die Verurteilungen jedoch auch eine starke ethnische Dimension.

Ein Vielvölkerstaat?

Russland ist Heimat einer beträchtlichen ethnischen, sprachlichen und religiösen Vielfalt. Laut der letzten Volkszählung im Jahr 2021 stellen ethnische Russen 71 Prozent der Bevölkerung dar, wobei Tataren, Tschetschenen und Baschkiren die zahlenmäßig größten muslimischen Minderheiten bilden. Kritiker spekulieren, dass der russische Staat die Bevölkerungsstatistik manipuliert, um die Zahl der Menschen aus ethnischen Minderheiten abzuschwächen und sie so im Vergleich zu ethnischen Russen unbedeutend erscheinen zu lassen.

Im religiösen Bereich werden nicht-orthodoxe Religionsgemeinschaften bis zu einem gewissen Grad anerkannt. Neben dem orthodoxen Christentum werden drei weitere Konfessionen – Islam, Buddhismus und Judentum – als „traditionell“ für die russische Gesellschaft eingestuft. Die sogenannten Muftiate, die Vertretungsorgane der muslimischen Gemeinden, gelten als absolut loyal gegenüber dem russischen Regime. Staatlich finanzierte muslimische Eliten haben ihre engen Beziehungen nicht nur zum Staat, sondern auch zur russisch-orthodoxen Kirche unter Beweis gestellt und sich für die russische Invasion in der Ukraine ausgesprochen.

Einheit statt Vielfalt

Im heutigen Russland verschleiert eine neue nationale Identität, die sich auf das slawische Erbe des Landes und die Zugehörigkeit zur russisch-orthodoxen Kirche konzentriert, die Rolle ethnischer und religiöser Minderheiten in der russischen Geschichte und ihren Beitrag zu einer gemeinsamen Kultur. In Geschichtsbüchern und Ausstellungen werden sie oft in einem Prozess der Angleichung unsichtbar gemacht. Ein Beispiel dafür ist die Ausstellung „Russland, meine Geschichte“, die  in zahlreiche russische Städte exportiert wurde und Russland als einen Staat ohne ethnische oder religiöse Vielfalt darstellt. Bei offiziellen Anlässen präsentieren die Behörden eine Fassade kultureller Vielfalt und Gleichberechtigung, aber dahinter verbirgt sich eine Tendenz zur Uniformität und zu ungleichen Beziehungen zwischen dem Zentrum und den nationalen Republiken.

Die russische Gesetzgebung, die bis 2010 regionale und nationale Kulturen und Sprachen unterstützte, ist heute restriktiver gegenüber Sprecher*innen nichtrussischer Sprachen. Vor allem im Bildungswesen und in den Medien herrscht eine homogenisierende Sprachideologie vor. Nach dem neuen föderalen Gesetz „Über die Bildung in der Russischen Föderation“ ist der Unterricht in den Nationalsprachen der Republiken an den Schulen nicht mehr obligatorisch und sollte nicht zu Lasten des Unterrichts und des Studiums der russischen Sprache gehen. In Schulen, in denen er noch stattfindet, wurde der Unterricht in den Sprachen der nationalen Republiken auf zwei Stunden pro Woche reduziert. Und in vielen Regionen gibt es keine öffentlichen Kindergärten oder Vorschulen, in denen Kinder in ihrer Muttersprache unterrichtet werden.

Darüber hinaus haben nichtrussische Eltern nun die Möglichkeit, Russisch als Muttersprache ihrer Kinder zu registrieren. Dies bedeutet, dass die offizielle Zahl der Sprecher*innen anderer Sprachen stetig sinken wird, was zu einem strukturellen Abbau der Zweisprachigkeit führt. Vor der Covid-19-Pandemie führten Gesetzesänderungen im Zusammenhang mit der offiziellen Einsprachigkeitspolitik zu zahlreichen Protesten, insbesondere in Tatarstan und Baschkortostan. Nachfolgende Verfassungsänderungen im Jahr 2020 erklärten Russisch zur Sprache der „staatsbildenden Nation“, und Änderungen des Gesetzes „Über die Staatssprache“ im Jahr 2022 betonen die verbindende Rolle der russischen Sprache in einem multiethnischen Staat.

Vom politischen Aktivismus zum kulturellen Ausdruck

Der 2024 verhaftete Alsynow wurde unter seinen Landsleuten als Gründer der Gruppe „Bashkort“ bekannt und weithin respektiert. Mit ihr setzte er sich für den Schutz der Umwelt in der Region und die Erhaltung der baschkirischen Sprache und Kultur ein. Andere Forderungen, die sich explizit auf die Rechte ethnischer Minderheiten bezogen – zum Beispiel die Einnahmen aus den natürlichen Ressourcen in der Republik zu behalten – führten dazu, dass Bashkort von der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation zu einer extremistischen Organisation erklärt und 2020 praktisch verboten wurde.

Generell ist in Russland eine allmähliche Verschiebung im politischen Verhalten ethnischer Minderheiten zu beobachten. Aus Angst, als Gegner*innen des Regimes stigmatisiert und als „extremistisch“ und „separatistisch“ verurteilt zu werden, verzichten einige Aktivist*innen ethnischer Minderheiten auf politische Aktionen im klassischen Sinne und bevorzugen stattdessen den Ausdruck der eigenen kulturellen Identität. Sie schließen sich mit anderen Verfechter*innen der Kultur ethnischer Minderheiten zusammen, die schon immer eher zu einer Art Dekolonisierung mit anderen Mitteln“ neigten. Durch die Darstellung einer anderen Sichtweise auf bestimmte Orte oder ganze Regionen untergraben Aktivist*innen und Bürger*innen in der multiethnischen Wolga-Ural-Region vorherrschende Narrative, die suggerieren, dass sie peripher und daher weniger wichtig sind als Moskau oder St. Petersburg.

In den Jahren 2018 und 2020 waren Alsynow und andere Vertreter*innen der lokalen Bevölkerung an Protesten beteiligt, um die Shihan-Hügel Toratau und Kushtau vor dem Abriss durch ein Unternehmen zu schützen, das in der Gegend Kalkstein abbauen wollte. Damit gaben die Demonstrierenden den Shihan-Hügeln zugleich eine neue Bedeutung als Orte ihres kulturellen Erbes. Von unbedeutenden Strukturen in der Landschaft, die ausschließlich an finanziellen Gewinnen gemessen wurden, wurden sie zu heiligen Stätten und Symbolen einer gemeinsamen baschkirischen Identität.

Die Demonstrierenden konnten das Bergbauunternehmen von den Stätten Toratau und Kushtau vertreiben, und bisher hat es niemand erneut gewagt, die Shihan-Hügel zu gefährden. Eine Gruppe von Unternehmern hat sogar beschlossen, einen Nationalpark mit dem Namen „Geopark Toratau“ einzurichten, der dazu beitragen soll, den Schutzstatus der Shihan-Hügel auch in Zukunft zu sichern.

Angesichts der aktuellen Gefahr schwerer Repressionen vermeiden lokale Aktivist*innen und Freiwillige jedoch zunehmend die meisten politischen Themen und sind vorsichtiger geworden, wenn es darum geht, Umweltprobleme anzusprechen. Ihre Forderungen sind nun vielschichtiger und ihre Verhandlungspolitik in Form und Ausdruck „weicher“, aber sie können immer noch wirksam andere Formen der Zugehörigkeit fördern.


Bei Yasin Chulmani handelt es sich um ein Pseudonym. Der Name des Autors ist der Redaktion bekannt.

Tsypylma Darieva ist Sozialanthropologin und Senior Researcher am ZOiS, wo sie den Forschungsschwerpunkt „Migration und Diversität“ leitet.